Theorie und Praxis
Simon Rattles Klassiker-Renovierungen mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment
21. Februar 1994
Simon Rattle präsentierte sich erstmals mit dem Orchestra of the Age of Enlightment im Wiener Konzerthaus. Die Gäste, sehr bejubelt zwar, müssen sich doch auch Kritik gefallen lassen.Was den Dirigenten betrifft, der via Schallplatten zum Publikumsliebling avanciert ist, war auch diesmal zu bemerken, daß er ein exzellenter Musiker ist, einer, der mit originellen Ideen ebenso wie mit akribischer Detailarbeit ans Werk geht.
Auf Schleuderkurs
Nur bleibt die Frage: Warum geht er mit einem Orchester auf Reisen, das nicht allein wegen der verwendeten, schwerer als modernes Gerät ansprechenden Originalinstrumente allzuoft »ins Schleudern« kommt?Abgesehen davon, daß das »Age of Enlightenment« samt dem dazu passenden Instrumentarium zu Zeiten von Schuberts »Großer C-Dur-Symphonie« längst vorbei war, mutet es doch ein wenig seltsam an, wenn sich ein Maestro sein klares interpretatorisches Konzept von technischen Mängeln konsequent trüben läßt, und daß er es in Kauf nimmt, vieles von dem, was er offenkundig hören möchte, nicht oder nur unzureichend hören zu können.
Quirliger Mozart
Rattle, einer der klügsten und originellsten Dirigenten unserer Zeit, weiß mit jeder Partitur etwas anzufangen. Er liest, das ist seine Stärke Nummer eins, genauer als die meisten Kollegen, was Komponisten aufgeschrieben haben. Er weiß um die Zeitumstände und den Bedeutungswandel, den Hilfszeichen wie Akzente oder dynamische Angaben durchmachen.All das ist in Rattle-Konzerten unmittelbar zu erfahren: Mozarts g-Moll-Symphonie (KV 550) zum Beispiel ist in Wien selten so differenziert erklungen, abgezirkelt in jedem Detail, im Hinblick auf die Phrasierung und die Lautstärkeregulierung in jeder Sekunde minutiös durchgearbeitet.
Romantischer Geist
Die Lebendigkeit, die Rattles Aufführung atmet, entsteht freilich nicht allein daraus, sondern resultiert vielmehr aus dem durchaus romantischen Geist, mit dem der Dirigent all diese Feinmechanik als technische Grundlage für sein Ausdrucksbestreben nützt.Und da ist er dann eigentlich näher bei Furtwängler als bei Harnoncourt. Die Leidenschaften, die anklingen, die Lust, Passagen auch durch jähe oder subtile Tempoveränderungen herauszuheben, gemahnt an jenes altgewohnte Mozartbild, dem moderne »Zurück zum Original«-Bestrebungen eigentlich den Garaus machen wollten.
Kontraproduktive Diskrepanzen
Das Orchestra of the Age of Enlightment fungiert hin und wieder eher als Störfaktor denn als williger künstlerischer Partner. Bei Mozart schon konnten etwa die tiefen Streicher mit dem rasanten Final-Tempo Rattles nicht mithalten, auch bei Haydns 90. Symphonie verwässerten vergleichbare Unbilden das angestrebte, transparente Klangbild zum, freundlich gesagt, Aquarell.Bei Schubert und - im zweiten Konzert - bei Beethovens »Pastorale« mehrten sich solche Diskrepanzen und erwiesen sich letztlich als kontraproduktiv. Nicht einmal nur heikle Bläsersoli gerieten zur Zitterpartie. Der Gesamtklang blieb flach, für große Entfaltungen, wie Rattle sie eindeutig suggeriert, fehlen dem Ensemble (im großen Konzerthaussaal zumal) Expansion und Atem. So schwer muß man es sich als Dirigent doch nicht machen.
Das Publikum abstrahierte sich offenbar, was Rattle meint, hörte über den Rest hinweg und jubelte. Was ein Star ist, darf sich seines Erfolges gewiß sein.