Sir Simon Rattle
Interview zum ersten »Philharmonischen«
16. Februar 1994
Simon Rattle hat Wien entdeckt. Nach seinem Philharmoniker-Debüt mit Mahlers Neunter dirigiert er Konzerte in Musikverein und Konzerthaus.Im Umfeld seines ersten »Philharmonischen« verweigerte der britische Maestro jedes Interview. Der »Presse« stand er vor einiger Zeit in Birmingham Rede und Antwort - im Zentrum seiner ungewöhnlichen Karriere.
Karriere ohne Blitzstart
Rattle hat nämlich auf einen Blitzstart an den Pulten der großen internationalen Orchester verzichtet und es vorgezogen, mit einem vor 10 Jahren noch fast unbekannten Ensemble konsequent zu arbeiten - an der Orchesterkultur, aber auch an sich selbst, wie er betont.Heute ist das City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem er zu den Festwochen ein Wien-Gastspiel absolvieren wird, eines der bekanntesten der Welt. Und Rattle zählt zu den begehrtesten Pult-Virtuosen.
Mit ihm ging die Ära der smarten »Jet-Setter« zu Ende. Nicht nur hier ist Rattle ein Vorreiter. Auch die Beschäftigung mit den Erkenntnissen der »Originalinstrumentenapostel« gilt ihm als Voraussetzung für jeden zeitgemäßen Interpreten.
»Originalklang« öffnet die Ohren
»Abgesehen davon, daß nur extreme Persönlichkeiten wie Nikolaus Harnoncourt oder David Munrow (einer der Lehrer Rattles) etwas weiterbringen. Ich bewundere an ihnen, daß sie jedem intelligenten Musikfreund die Ohren öffnen. Jeder Musiker weiß heute über stilistische Fragen, wie sie diese Interpreten aufgeworfen haben, Bescheid.« So sei es auch nicht mehr nötig, auf Spezialensembles mit »Originalinstrumenten« zurückzugreifen.»Auch in Berlin spielen die Geiger der Philharmoniker die entsprechenden Sachen schon ohne Vibrato.« Da habe ein Umdenkprozeß stattgefunden, der den Interpretationsstil geprägt hat. Zu studieren wird das sein, wenn er mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment kommendes Wochenende Haydn, Mozart, Schubert, Beethoven aufführt.
Sogar für romantische Musik war diese sanfte Revolution wichtig: »Die Leute sagen immer, Schumann hätte seine Symphonien so dick instrumentiert. Das liegt aber nur am modernen Holzbläserklang, der viel dicker ist als der damals übliche.« Rattles Spektrum - in der Jugend vom Jazz geprägt reicht von Rameau bis zur Moderne.
Partituren, genau gelesen
Er ist bedacht auf Wahrhaftigkeit, was zu Kuriosa führen kann: »Wir haben eine Partitur der ,Schöpfung' entdeckt, in der Haydn Verzierungen angebracht hat. Als wir sie im Konzert realisiert haben, schimpften die Kritiker, daß wir Veränderungen angebracht hätten . . .«Mit zeitgenössischen Komponisten arbeitet er gern: »Denen fällt dann oft noch etwas Neues ein. Oder sie kommen drauf, daß etwas ganz falsch notiert ist.«
Quellenkritik hört nie auf.
Und Rattle bleibt auf dem Podium trotzdem ein lockerer, frischer Musikant.
Gastspiel 1994
Theorie und Praxis des »Originalklangs« (Rezension)
Gastspiel 2011
Sein und Schein von »Interpretation« (Rezension)