Gottlob kann er nicht fliegen
Carlos Kleibers zweites Neujahrskonzert
Die Presse, 2. Jänner 1992
Das dirigierende Energiebündel verursachte ein Neujahrsereignis
Wenn Carlos Kleiber fliegen könnte, würde er, glaube ich, überhaupt nicht dirigieren. Nicht einmal das Neujahrskonzert.
Und nur, weil er nicht fliegen kann, das aber so gern können möchte, dirigiert er.
Das ist nur so eine Theorie.
Aber sie könnte stimmen.
Als Kleiber am 1. Jänner im Goldenen Musikvereinssaal wieder auf virtuose Weise den Taktstock schwang, drängte sich mir unvermittelt wieder die Vermutung auf, daß da einer dem uralten Menschheitstraum nachhängt, ganz leicht und schwerelos dahinschweben zu können. Ohne Turbinen oder Propeller, vogelgleich.
Und da das nun einmal nicht geht, sucht er sich mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, den bestmöglichen Ersatz dafür. Seine Mittel sind musikalische. Das kommt uns zugute. Denn sein Drang, die Schwerelosigkeit tönend zu beschwören, scheint dem philharmonischen Klang Flügel zu verleihen.
Allein wegen der ersten Sekunden eines Kleiberschen Neujahrskonzertes freue ich mich schon auf dessen nächste Auflage. Unvergeßlich ist mir bis heute - und obwohl seither schon andere sich in straußischen Höhenflügen versucht haben, dabei aber fest auf dem Boden der Tatsachen kleben blieben - wie Kleibers erste diesbezügliche Studie anhob: Mit einigen ohne einen Anflug von Erdenschwere wirbelnden Einleitungstakten zu den »Accelerationen«. Wer sie gehört hat, in dessen Erinnerung schweben sie heute noch.
v Ihnen zur Seite flirrt seit Mittwoch mittag das geheimnisvolle sommerliche Tongespinst, aus dem Otto Nicolais Ouvertüre zu den »Lustigen Weibern von Windsor« herauswächst. Es entfaltete sich diesmal - wie seinerzeit die »Accelerationen« - scheinbar aus dem Nichts zu voller, farbenprächtigster Blüte. Schöner kann ein Konzert nicht anfangen.
Schöner können sich die Philharmoniker nicht in ihr Jubiläumsjahr hereinsingen: Solange ihnen dieser Sekundenbruchteil zwischen dem Unhörbaren und dem Gerade-schon-Klingen gehört - und er gehört ihnen allein, wenn ein Mann wie Kleiber ihn zu beschwören versteht - sind und bleiben sie jenes wahrhaft »unvergleichliche« Orchester, das auf Nicolais Initiative einst gegründet worden ist.
Kaum war dem Urvater die Reverenz erwiesen, ereigneten sich innerhalb des traditionellen Dreivierteltaktreigens allerhand gar nicht traditionelle Sensationen. Denn Carlos Kleiber träumt, wie gesagt, offenbar vom Fliegen und formt daher aus manchen Walzermelodien der »Dorfschwalben« oder von »Tausend und einer Nacht« schmiegsame Phrasen, die sich allen Taktstrichfesseln entringen und einfach frei im Raum entfalten.
Mit streichelnden, umarmenden Gesten erreicht er das. Und zwischendurch, wo sein Traum ganz nah daran scheint, Wirklichkeit zu werden, steckt er, Höhepunkt der fortwährenden Bemühung um Entkrampfung, um Lösung, um Befreiung, den linken Daumen in die Hosentasche. Nicht die ganze Hand, so viel burschikose Ruhe kehrt in dem produktiven Nervenbündel Kleiber nie ein. Aber den Daumen. Immer nur ganz kurz, denn gleich wieder gilt es, den Mächten der Schwerkraft zu trotzen, mit einem neuen quirligen Aufschwung, oder einem ätherischen Pianissimohauch.
In den mäßig langsamen, diesmal beinahe behäbige Tempi tanzenden Mazur-Polkas fand Kleibers Lust am Ausbalancieren der einzelnen Kompositionsteile ihre Höhepunkte: Da durften etliche Verzögerungen der Gleichförmigkeit des Taktes den Garaus machen. Jongleurgleich wies uns der Maestro solcherart darauf hin, daß man wenigstens am 1. Jänner und im Musikverein Johann oder Joseph Strauß keineswegs als Komponisten von Tanzstücken, sondern von kunstvoller symphonischer Musik zu würdigen wissen soll.
Das freilich mußte spätestens mit der »Zigeunerbaron«-Ouvertüre allen Besuchern klar geworden sein, die Kleiber in die römisch erste Ungarische Rhapsodie verwandelte, fahrig, energisch, zerbrechlich zart und jäh wieder von entfesselter Kraft. Und immer noch war die Stunde der Schlagzeuger nicht gekommen, die in diesem Neujahrskonzert so dezent wie kaum je zuvor zu Werke gehen mußten: Erst »Donner und Blitz« verhalfen ihnen zu ihrem über die Jahrzehnte hin angestammten Lärmrecht.
Allein die »Sphärenklänge« mögen manchen im Saal, der kritische Vergleiche mit der jüngeren Neujahrsvergangenheit nicht lassen kann, kurzfristig ein wenig auf die Erde zurückgeholt haben, weil sie am wenigsten von allen Piècen diesmal den hochfliegenden Ansprüchen ihrer Titelsuggestion zu genügen schienen.
Der Rest aber war, wie schon gesagt, ein geglückter Versuch, die Schwerkraft zu überwinden. Gottlob einer, der musikalisch bleiben mußte. So kann, ja muß Kleiber wiederkommen. Denn nur hier wird's ihm so leicht . . .
Wenn Carlos Kleiber fliegen könnte, würde er, glaube ich, überhaupt nicht dirigieren. Nicht einmal das Neujahrskonzert.
Und nur, weil er nicht fliegen kann, das aber so gern können möchte, dirigiert er.
Das ist nur so eine Theorie.
Aber sie könnte stimmen.
Als Kleiber am 1. Jänner im Goldenen Musikvereinssaal wieder auf virtuose Weise den Taktstock schwang, drängte sich mir unvermittelt wieder die Vermutung auf, daß da einer dem uralten Menschheitstraum nachhängt, ganz leicht und schwerelos dahinschweben zu können. Ohne Turbinen oder Propeller, vogelgleich.
Und da das nun einmal nicht geht, sucht er sich mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen, den bestmöglichen Ersatz dafür. Seine Mittel sind musikalische. Das kommt uns zugute. Denn sein Drang, die Schwerelosigkeit tönend zu beschwören, scheint dem philharmonischen Klang Flügel zu verleihen.
Allein wegen der ersten Sekunden eines Kleiberschen Neujahrskonzertes freue ich mich schon auf dessen nächste Auflage. Unvergeßlich ist mir bis heute - und obwohl seither schon andere sich in straußischen Höhenflügen versucht haben, dabei aber fest auf dem Boden der Tatsachen kleben blieben - wie Kleibers erste diesbezügliche Studie anhob: Mit einigen ohne einen Anflug von Erdenschwere wirbelnden Einleitungstakten zu den »Accelerationen«. Wer sie gehört hat, in dessen Erinnerung schweben sie heute noch.
v Ihnen zur Seite flirrt seit Mittwoch mittag das geheimnisvolle sommerliche Tongespinst, aus dem Otto Nicolais Ouvertüre zu den »Lustigen Weibern von Windsor« herauswächst. Es entfaltete sich diesmal - wie seinerzeit die »Accelerationen« - scheinbar aus dem Nichts zu voller, farbenprächtigster Blüte. Schöner kann ein Konzert nicht anfangen.
Schöner können sich die Philharmoniker nicht in ihr Jubiläumsjahr hereinsingen: Solange ihnen dieser Sekundenbruchteil zwischen dem Unhörbaren und dem Gerade-schon-Klingen gehört - und er gehört ihnen allein, wenn ein Mann wie Kleiber ihn zu beschwören versteht - sind und bleiben sie jenes wahrhaft »unvergleichliche« Orchester, das auf Nicolais Initiative einst gegründet worden ist.
Kaum war dem Urvater die Reverenz erwiesen, ereigneten sich innerhalb des traditionellen Dreivierteltaktreigens allerhand gar nicht traditionelle Sensationen. Denn Carlos Kleiber träumt, wie gesagt, offenbar vom Fliegen und formt daher aus manchen Walzermelodien der »Dorfschwalben« oder von »Tausend und einer Nacht« schmiegsame Phrasen, die sich allen Taktstrichfesseln entringen und einfach frei im Raum entfalten.
Mit streichelnden, umarmenden Gesten erreicht er das. Und zwischendurch, wo sein Traum ganz nah daran scheint, Wirklichkeit zu werden, steckt er, Höhepunkt der fortwährenden Bemühung um Entkrampfung, um Lösung, um Befreiung, den linken Daumen in die Hosentasche. Nicht die ganze Hand, so viel burschikose Ruhe kehrt in dem produktiven Nervenbündel Kleiber nie ein. Aber den Daumen. Immer nur ganz kurz, denn gleich wieder gilt es, den Mächten der Schwerkraft zu trotzen, mit einem neuen quirligen Aufschwung, oder einem ätherischen Pianissimohauch.
In den mäßig langsamen, diesmal beinahe behäbige Tempi tanzenden Mazur-Polkas fand Kleibers Lust am Ausbalancieren der einzelnen Kompositionsteile ihre Höhepunkte: Da durften etliche Verzögerungen der Gleichförmigkeit des Taktes den Garaus machen. Jongleurgleich wies uns der Maestro solcherart darauf hin, daß man wenigstens am 1. Jänner und im Musikverein Johann oder Joseph Strauß keineswegs als Komponisten von Tanzstücken, sondern von kunstvoller symphonischer Musik zu würdigen wissen soll.
Das freilich mußte spätestens mit der »Zigeunerbaron«-Ouvertüre allen Besuchern klar geworden sein, die Kleiber in die römisch erste Ungarische Rhapsodie verwandelte, fahrig, energisch, zerbrechlich zart und jäh wieder von entfesselter Kraft. Und immer noch war die Stunde der Schlagzeuger nicht gekommen, die in diesem Neujahrskonzert so dezent wie kaum je zuvor zu Werke gehen mußten: Erst »Donner und Blitz« verhalfen ihnen zu ihrem über die Jahrzehnte hin angestammten Lärmrecht.
Allein die »Sphärenklänge« mögen manchen im Saal, der kritische Vergleiche mit der jüngeren Neujahrsvergangenheit nicht lassen kann, kurzfristig ein wenig auf die Erde zurückgeholt haben, weil sie am wenigsten von allen Piècen diesmal den hochfliegenden Ansprüchen ihrer Titelsuggestion zu genügen schienen.
Der Rest aber war, wie schon gesagt, ein geglückter Versuch, die Schwerkraft zu überwinden. Gottlob einer, der musikalisch bleiben mußte. So kann, ja muß Kleiber wiederkommen. Denn nur hier wird's ihm so leicht . . .