Der Vulkan ist erloschen

Als großer Verweigerer ist er bereits zu Lebzeiten in die Interpretations-Geschichte eingegangen. 74-jährig hat Carlos Kleiber die Musik-Bühne endgültig verlassen.

20. Juli 2004
»Dass sie so hässlich spielen können«, rief er, ehrlich verzweifelt, einem Orchester kurz nach Probenbeginn zu, einem Orchester, das sich diesen Satz von keinem, aber wirklich von keinem andern hätte sagen lassen. Der Fanatismus, der aus jedem Gesichtszug sprach, wenn Carlos Kleiber Musik machte, diesen Fanatismus wünschte, ja verlangte er von seinen Musikern. Waren sie nicht bereit, ihm auf der heiklen Gratwanderung zu folgen, die das Musikmachen für ihn bedeutete, waren sie nicht bereit, das höchste Risiko einzugehen, die kühnsten Volten zu wagen, dann konnte er auch davonlaufen. »Bin ins Blaue gefahren«, lautete der knappe Satz auf einem Zettel, den Kleiber Anfang der achtziger Jahre einmal im Hotel Imperial zurückließ. Wenige Minuten zuvor hatte er eine Probe im Musikverein fluchtartig verlassen, bei der es zu Unstimmigkeiten wegen einer Passage in Beethovens Vierter Symphonie gekommen war. Die Musik klang ihm nicht vibrierend, nicht erregt genug. Schon war er fort. Die Hypernervosität des Künstlers versetzte zwei Generationen von Intendanten und Veranstaltern in Angst und Schrecken. Der zweiten Generation blieben so gut wie nur noch diese unangenehmen Zustände. Kleiber kam nicht mehr. Von allen Medien, Musikern, Direktoren, Sängern umbuhlt, verweigerte er sich dem internationalen Musikbetrieb. Selbst wenn der ihm hypertrophe Gagen zusichern wollte, Kleiber trat nicht auf. Es ist ziemlich genau zehn Jahre her, da dirigierte er seine letzten »Rosenkavalier«-Vorstellungen. Das war das Gastspiel der Wiener Staatsoper in Japan. Zuvor waren drei Vorstellungen dieser Oper im Wiener Haus am Ring mitgeschnitten worden. Piraten-Mitschnitt Andere Stücke wiederum gibt es lediglich als Piraten-Mitschnitt, die »Elektra« zum Beispiel, die Kleiber Mitte der siebziger Jahre in London dirigierte, ist auf einer Doppel-CD greifbar. Die technische Qualität ist miserabel, aber hinter allem Rauschen und Blubbern dirigiert Kleiber. Das ist für seine Verehrer-Gemeinde Grund genug, die Platte zu kaufen und als Kultstück ins Regal zu stellen. Andere Trophäen sind dem Dirigenten regelrecht abgepresst worden. Den »Tristan« zum Beispiel, den er mit der Staatskapelle Dresden und einer durchaus problematischen Besetzung eingespielt hatte, wollte er, so hieß es, partout nicht freigeben. Die Firma hat die Aufnahme trotzdem veröffentlicht - und nie wieder einen Ton von Kleiber bekommen. Andere versuchten, den allseits Begehrten zu ködern. Im Verein mit den Wiener Philharmonikern gelang es, Kleiber zur Zustimmung zu einem Livemitschnitt seiner Aufführung von Richard Strauss' »Heldenleben« zu bewegen. Man spielte, das Publikum tobte vor Begeisterung, die Kritik dichtete Hymnen. Die CD ist bis heute nicht erschienen. Denn Kleiber hatte zwar zugestimmt, dass aufgenommen werden dürfe. Die Aufnahme gab er dann aber nicht frei. Sie wird, wie zu vermuten ist, posthum erscheinen, wie vieles, was von Kleiber noch in den Archiven schlummert. Denn mitgeschnitten wurde ab den späten siebziger Jahren so gut wie jeder seiner immer spärlicher werdenden Auftritte. Je aufgeregter, ja hysterischer das Publikum auf ihn reagierte, umso rarer machte er sich. München war über einige Jahre hin seine Lieblings-Station. Dort leitete er sogar Repertoire-Aufführungen der von ihm einstudierten Werke, die »Fledermaus« und den »Rosenkavalier« vor allem, dann »Traviata«, »Boheme« und »Otello«, zu Beginn sogar den »Wozzeck«. Womit das Repertoire beinahe schon abgegrenzt wäre, mit dem sich der Vielgeliebte über Jahrzehnte beschäftigen wollte. Im Konzertsaal kamen dazu eine Hand voll Symphonien, zwei von Mozart, zwei von Brahms, drei von Beethoven - und nur einmal eine vierte, die »Pastorale« dazu, die auch in Wien bei jenem Konzert auf dem Programm gestanden wäre, hätte nicht "das Blaue" zu sehr gelockt. Dabei waren die Anfänge des schwierigen Sohnes eines durchaus auch nicht einfachen großen Dirigenten, Erich Kleiber, fast »normal« zu nennen. Heimische Geiger erinnern sich noch recht gut an Kleibers Erstversuch mit Puccinis »Tosca« im Salzburger Landestheater. Der ging vorüber. Wie auch manche Unbilden von Ballett- oder Operettenaufführungen, die Carlos Kleiber als zweiter Kapellmeister in Zürich zu absolvieren hatte. Schmaler Kanon Damals erstreckte sich sein Repertoire vom »Bettelstudenten« bis zu Henzes »Undine«. Schon in seiner Zeit in Stuttgart, die seinen legendären Ruf als hochsensibler, kompromissloser Gestalter begründete, setzte die Spielplan-Reduktion ein. Bis sich zuletzt der erwähnte, schmale Kleiber-Kanon herauskristallisierte. Was Kleiber dann freilich erreichte, wenn er für eines seiner auserwählten Stücke in den Orchestergraben ging, das können all jene ermessen, die dabei waren, als »Tristan und Isolde« in Wien oder Bayreuth zum irisierend-fesselnden orchestralen Pandämonium wurde, bei dem beinahe gleichgültig schien, ob und wie da auch Singstimmen eingebunden waren: Da wurde Wagners sehnsüchtig verzehrende Musik zum unausweichlich die Seele umarmenden Ereignis. Wer das erlebt hatte, die von der charismatischen Figur am Pult ausgehende Hypnotisierung der Musiker wie des Publikums, der verstand dann wohl auch bald, warum Kleiber sich erstens so rar machte - dergleichen Intensität erträgt der, der sie entfacht, wohl am allerwenigsten als Dauerzustand - und warum er sich zweitens dagegen stemmte, seine Aufführungen verewigen zu lassen: Denn solche Wirkungen lassen sich von der besten Technik nicht konservieren. So bleibt die Erinnerung an zwei hinreißend charmante, vibrierend die Dreivierteltakt-Wahrheiten hinterfragende Wiener Neujahrskonzerte, an eine zündende »Carmen« und an manches Konzert, bei dem der rechte Ton für Schubert, Brahms oder Berg aufs Sensibelste getroffen ward. Die Opernhäuser von London, New York, München, Mailand und Wien wie auch die Wiener Philharmoniker und die bedeutenden Münchner Orchester, die er in seiner großen Zeit doch hie und da beehrt hatte, bemühten sich seit mehr als einem Jahrzehnt vergebens um ein Kleiber-Comeback. Nach langer und vollständiger Abstinenz ist der Klang-Magier in der Vorwoche in Slowenien gestorben, woher seine Mutter stammte. Man hat ihn dort so still, ohne Aufhebens beerdigt, wie er das wohl gewünscht hat.

↑DA CAPO