Pier Luigi Pizzi:
»Oper ist ja nicht tot, wie viele meinen«

DIntendant des »Sferisterio«-Festivals von Macerata, über Musiktheater heute, sinnlose Inszenierungen und junge Stimmen. Und den Moment, an dem man »basta« sagen muss.

Februar 1994
»Freiheit und Schicksal« - unter diesem Motto laufen die diesjährigen Veranstaltungen des Festivals von Macerata (der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in Mittelitalien), in der Arena (Sferisterio) und in kleineren Theatern der Stadt. Mit Pier Luigi Pizzi fungiert seit einiger Zeit ein alter Hase des italienischen Musiktheaters als Intendant des Aufführungsreigens, der mittlerweile seit 47 Jahren Musiktouristen in die Marken lockt.

Am 22. Juli feiert Verdis »Maskenball« Premiere, am 23. folgt »Rigoletto« Mozart kommt mit »Cosi fan tutte« im Teatro Lauro Rossi zu seinem Recht (ab 24. Juli). Intendant Pier Luigi Pizzi setzt auf junge Stimmen - und auf Regie-Arbeiten, die keine Zweifel darüber aufkommen lassen, welches Stück da eigentlich gespielt wird. Im Gespräch resümiert der Maestro mit gutem Humor: »Ich bin jetzt seit so vielen Jahren im Geschäft. Es hat sich viel verändert. Die Art, wie man Theater macht. Als ich anfing, da gab es große Stimmen. Und große Dirigenten. Die Regie war eigentlich nicht wichtig. Seit über Regie so viel diskutiert wird, gibt es eine Spaltung: Das Publikum wünscht sich große Show, die Kritiker suchen Verwirrung, Provokation vielleicht. Dadurch sind viele neue Gesichtspunkte auf die Bühne gekommen. Das ist nicht nur schlecht. Aber vieles, was provozieren soll, hat heute schon den Wert eines Deja-vu-Erlebnisses. Es war ja alles schon da! »

»Größe gibt es ja immer«

Was nicht heißen soll, dass sich Pizzi gegen die fortwährende Erneuerung des Opern-Erlebnisses sträubt. »Größe«, sagt er, »gibt es ja immer. Auch heute. Es ist völlig falsch, wenn Menschen behaupten, die wirklichen Persönlichkeiten, die bedeutenden Bühnenerscheinungen seien ausgestorben. Was wir am Theater erleben, ist eine konstante Evolution. Theater, das ist ein notwendiger, unausgesetzter Veränderungsprozess. Dabei erleben wir gute, aber immer auch sinnlose Sachen.«

»Wichtig«, sagt er, »ist und bleibt die Ironie - die muss man immer haben, aber gegen sich selbst! Sie gegen ein Werk zu richten, das ist leicht. Eine Parodie kann jeder Student am Konservatorium sofort machen. Das ist keine Kunst. Aber das Publikum heute frisst alles. Die große Krankheit unserer Zeit ist die Gleichgültigkeit - in Wahrheit gilt das auch politisch. Ich glaube, das kommt vom Fernsehen. Kein Mensch sieht mehr ein wirkliches Bild, jeder sieht jeden Tag die Fernsehbilder. Die stumpfen ab.«

Was die Kunst dieser Abstumpfung entgegenzusetzen hat? »Schönheit«, sagt Pier Luigi Pizzi, »die Schönheit rettet zwar nicht die Welt. Aber sie hat Gewicht, solange sie nicht zum Selbstzweck wird. Und damit sich diese Schönheit entfalten kann, braucht es eine Atmosphäre. Eine schöne Inszenierung gibt es also nicht, ein schönes Bühnenbild allein hat noch keinen Sinn.«

Diese Erkenntnis war mit ein Grund, dass aus Pier Luigi Pizzi irgendwann ein Regisseur wurde. Berühmt war er zuvor bereits als Bühnenbildner. Er begann 1951 bei Giorgio Strehler in Mailand, arbeitete dann viel mit Luca Ronconi, freilich auch mit weitaus schwächeren Theatergeistern, an die er sich heute nur mehr pauschal erinnern will.

»Attila mit al-Qaida, das ist sinnlos«

»Ich habe unzählige Bühnenbilder gemacht für andere Regisseure. Aber da gibt es einen Moment, an dem man sagt: Basta. Viele Regisseure haben dann ja meine Ideen verarbeitet. Dann habe ich mir gesagt, ich mache das lieber unverfälscht selber.« Und zwar in enormer Bandbreite - von der Barockoper bis zu Henzes »Elegie für junge Liebende« oder Ades' »Powder Her Face«.

»Oper ist ja nicht tot, wie viele meinen », sagt er, »es ist auch überhaupt nicht nötig, ein Stück in die heutige Zeit zu transferieren. Bei Komödien ist das zwar relativ leicht möglich, aber einem Attila mit der al-Qaida zu kommen, ist völlig sinnlos. Da mache ich lieber heutige Stücke.«

»Ein echtes Festival braucht Einheit »

Mittlerweile inszeniert er auch das Macerata-Festival, und zwar träumt er da durchaus von einer stimmigen Gesamtwirkung. »Ein echtes Festival », sagt er, »braucht Einheit, nicht Auftritte von einzelnen Stars, um die herum halt irgendetwas arrangiert wird. Es geht um ein Gesamtprojekt, innerhalb dessen die Musikfreunde neue, gute Stimmen entdecken möchten. Anders als in Verona haben wir im Sferisterio eine exzellente Akustik, sodass die Sänger nicht brüllen müssen. Die Qualität einer Stimme kann sich hier wirklich entfalten. Auf diese Weise ist es uns immer wieder gelungen, jungen Sängern zu guten Starts zu verhelfen. Heuer haben Sie zum Beispiel Gelegenheit, mit Teresa Romano eine hinreißende junge Sopranistin zu entdecken. Sie ist 26 und singt die Amelia in Verdis ,Ballo in maschera'. Sie hat bei Claudio Abbado begonnen und mit ihm Pergolesi aufgeführt und aufgenommen. Sie war bei uns Margarethe, Donna Elvira und Fiordiligi.«

Stimmen wie diese entdeckt Pizzi auf seinen vielen Reisen. »Ich höre Vorsingen, ich höre Vorstellungen, weltweit.«

Mit jungen Künstlern dieses Formats versucht er, seiner Maxime treu zu bleiben, die da lautet: »Auch in Zeiten der Finanzkrise kann man nüchtern kalkulieren und weiterarbeiten, ohne dass die Qualität leidet. Es stimmt zwar, dass man Gefahr läuft, immer weniger zu bekommen, je mehr man beweist, dass man sparen kann. Aber vielleicht ist das viele Geld ja auch nicht immer sinnvoll ausgegeben worden. Die Katze beißt sich in den Schwanz: Jeder neue Kulturminister sagt: Kultur ist wichtig. Und jeder Finanzminister sagt darauf: Nein. »

»In Italien wird die Oper nicht aussterben«

»In Italien«, so Pizzi, wird trotz allem die Oper nicht so einfach aussterben. »Sie ist wichtig, sie war immer geliebt vom Volk und galt ihm als ein fundamentales Kommunikationsmittel. «Deshalb macht er auch in seiner Heimat unverdrossen weiter, auch wenn traditionsgemäß »unglaublich kurzfristig geplant wird«.
Im Juni brachte er beim Maggio Musicale in Florenz Monteverdis »Krönung der Poppea« heraus, und ehe er im kommenden Frühjahr in Berlin Rossinis »Tancredi« inszeniert, könnte leicht noch eine Produktion von Verdis "Battaglia di Legnano" in Parma auf dem Programm stehen, »die wir vielleicht in Verdis Geburtsort Busseto spielen, in einem wunderbaren Theater aus der Zeit um 1600. Wer weiß?«



↑DA CAPO