Amy Shuard
1924 - 1975
Zeugnisse dieser Sängerin müssen Musikfreunde suchen. Sie wurde kaum dokumentiert. Doch die Mühe lohnt sich: Die Engländerin besaß eine der beeindruckendsten dramatischen Sopranstimmen, die in der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts zu hören waren, satt und kraftvoll timbriert, leuchtkräftig bis in die höchste Höhe und äußerst modulationsfähig in Tongebung und Phrasierung. Daß die Plattengesellschaften sie »übersehen« haben, darf nicht dazu führen, daß die Nachwelt diese Stimmen vollkommen überhört.Spät in ihrer Laufbahn sind zwei Vorstellungen von Wagners Parsifal aufgezeichnet worden, in denen Shuard die Kundry gegeben hat - auch in den notorisch erschöpfenden letzten Minuten des zweiten Aufzugs noch voll in Blüte und Ausdruckskraft: In London unter Reginald Goodall an der Seite des grandiosen Jon Vickers, in Venedig - in einer arg verkürzten Version unter Heinz Wallberg - mit dem jungen René Kollo in der Titelpartie.
Shuard war bei Eva Turner ausgebildet worden und brillierte auch in deren Glanzpartie, Puccinis Turandot mit einer Sicherheit und Strahlkraft, die jener von Birgit Nilsson, der in ihrer Zeit allgemein als führend anerkannten Interpretin, nicht nachstand.
In England sang Shuard in den jeweiligen Erstaufführungen von Leoš Janáčeks Jenufa und Katja Kabanova die Titelpartien.
Aus Covent Garden existiert der Mitschnitt einer von Franz Konwitschny dirigierten, exzellent besetzten Walküre von 1959 mit Hans Hotter, Astrid Varnay und Kurt Böhme, in der Shuard an der Seite Ramon Vinays die Sieglinde singt. Sechs Jahre später war Shuard, die 1957 unter Rdolf Kempe noch die Gerhilde gesungen hatte, am selben Haus die Brünnhilde unter Georg Solti, während die junge Gwyneth Jones und Ernst Kozub das Wälsungenpaar sangen.
Dieselbe steile Kurve führte sie in den Londoner Aufführungen der Götterdämmerung von der Dritten Norn (1957 unter Kempe) über die Gutrune (unter Konwitschny) zur Brünnhilde (Solti, 1965). Von allen diesen Aufführungen sind mittlerweile Live-Aufnahmen in den Handel gekommen.
Die einzige Studio-Soloplatte, die Shuard eingespielt hat, begleitete das Orchester der Royal Opera unter Edward Downes. läßt Shuard unter anderem in Verdi- und Puccini-Opern hören: Ihre »Nilarie« (Aida) ist unglaublich sicher und leuchtkräftig gesungen - für das mühelos angepeilte, aber ein wenig steif klingende hohe C entschädigt unmittelbar darauf ein schwebendes hohes A als Schluß-Ton. Hie und da trüben bei dieser Sängerin im italienischen Repertoire die mit leichter Reserve angesteuerten Spitzentöne den Hörgenuß, was freilich durch beseelte Tongebung und feinfühlige Phrasierung rundum meist wettgemacht wird.
Das »In questa reggia« der Turandot singt Shuard auf dieser Platte mit bemerkeswerter Leichtigkeit und großem Elan (und diesfalls einem wirklich strahlenden C).
Grandios reüssierte Shuard als Lady Macbeth in Aufführungen der Verdi-Oper in London (unter Molinari Pradelli mit Tito Gobbi) und Buenos Aires (1962 mit Anselo Colzani, 1964 mit Giuseppe Taddei unter Previtali - eine Sternstunde vollblütige Musiktheaters trotz mangelhafter technischer Qualität des Mitschnitts).
Außerordentlich - inmitten einer insgesamt bemerkenswerten Produktion - ihre Kassandra in den von Rafael Kubeli dirigierten Londoner Trojanern (1957, in englischer Sprache).