Ihr Feld war »bestellt«, gewiß, als ihre immense Karriere begann: Mit Grace Bumbry, Leontyne Price oder Shirley Verrett hatte bereit eine Generation farbiger Sopranistinnen Karriere gemacht. Doch als Jessye Mae Norman 1945 in Augusta, Georgia, geboren wurde, waren die Zeitgen für afroamerikanische US-Bürger noch nicht leicht gewesen. Jessye war das dritte von fünf Kindern eines Versicherungsvertreters und einer Lehrerin. Die Familie war musikalisch, die Mutter spielte Klavier, der Vater sang im Baptistenchor, wo auch die Tochter schon Gospellieder sang, seit sie vier Jahre alt war!
Und den Klang des Harmoniums, das sie bei einer Verwandten zu hören bekommen hatte, bezeichnete sie später als das Exotischste, was ich in meiner Kindheit zu hören bekommen hatte.
Zumindest bis sie an ihrem neuten Geburtstag einen Radioapparat geschenkt bekam, der ihr nach und nach die Welt der Musik eröffnete. Von der Met hörte sie anläßlich der regelämßigen Wochenende-Übertragungen Donizettis Lucia di Lammermoor, eine Musik, von der sie sich regelrecht verzaubern ließ.
In der Schulklasse war sie bald darauf eine beliebte Märchen-Erzählerin, weil sie jeden Montag die aufregenden Opernhandlungen nacherzählen konnte. Die Stimme der Norman wurde in der Schule entdeckt. Man schickte das Mädchen zu einem Gesangswettbewerb, den sie zwar nicht gewann, wo sie aber auffiel: Ein Jurymitglied schickte sie zur Gesangspädagogin Carolyn Grant, die so angetan war, daß sie dem jungen Talent ein Stipendium verschaffte.
Schon während des Studiums sang Norman an der Met vor und gewann dort immerhin ein Stipendium, das es ihr ermöglichte zum Wettbewerb des Bayerischen Rundfunks nach Europa zu fliegen. Dort hörte sie Egon Seefehlner, damals Intendant der Deutschen Oper Berlin. Er griff zu und engagierte sie als Elisabeth für eine Aufführungs von Wagners Tannhäuser im Jahr 1969. Sie sang, wie man das damals nannte »auf Engagement« - das sie bereits in der zweiten Pause in der Tasche hatte: Seefehlner holte sich die Afroamerikanerin für drei Jahre ins Berliner Ensemble - die Norman hat es später als »einen surrealen Moment« in ihrer Karriere bezeichnet, daß er ihr gelungen war, in einem deutschen Opernhaus mit einer Wagner-Partie diesen Status zu erreichen.
In den drei Jahren ihres Berliner Engagements lernte die Norman so perfekt wie möglich die deutsche Sprache - was ihr bald sehr zugute kommen sollte. Ein nicht geringer Prozentsatz ihres Opern- und Lied-Repertoires war deutsch zu absolvieren!
Die Sieglinde (in James Levines New Yorker Ring des Nibelungen), die Ariadne (in der CD-Produktion von Kurt Masur) und die Elsa (in Georg Soltis Lohengrin-Aufnahme mit Placido Domingo) zählen Norman-Verehrer zu den Aufnahme-Ikonen. Nicht minder die Vier letzte Lieder von Richard Strauss unter Masur und - eine Produktion mit der Norma Maßstäbe gesetzt hat - Arnold Schönbergs Erwartung, mit der sie auch in einer Inszenierung Robert Wilsons bei den Salzburger Festspielen zu erleben war.
In Erinnerung blieben freilich vor allem die Konzert-Auftritte Jessye Normans, in denen klassisch-romantisches Repertoire gern mit Spirituals gemischt wurde, was die Fans stets in helle Aufregung versetzt hat.
Kaum beachtet wurde, daß Jessye Norman schon früh in ihrer Karriere von Antal Dorati für ein wichtiges Schallplatten-Projekt herangezogen wurde: Sie war Teil des Ensembles, mit dem der ungarische Dirigent (für Philips) einen Großteil der Opern von Joseph Haydn erstmals in der Geschichte im Studio produziert hat.
Verhältnismäßig frühe Dokumente von Normans Ruhm waren die Gesamtaufnahmen von Berlioz' Trojanern unter Colin Davis. Die Kassandra in dieser Oper war auch die Debüt-Rolle Normans an der Londoner Covent Garden Oper - damals titelte die »Times«: Troja gefallen. Die Norman erobert.
Colin Davis holte die Norman dann auch ins Studio, um mit ihr als Gräfin Mozarts Hochzeit des Figaro aufzunehmen. Diese Einspielung begeisterte die Kritiker ebenso wie die frühen Verdi-Opern auf Philips, bei denen die Norman mit von der Partie war (Il corsaro und Un giorno di regno).
Nur, als ein Produzent auf die Idee kam, Jessye Norman als Carmen vor die Mikrophone zu bitten, gab es teils hämische Rezensionen.
Im übrigen war die Karriere dieser Künstlerin eine einzige Erfolgsgeschichte, deren heimlicher Höhepunkt der gemeinsame Auftritt mit Herbert von Karajan im Salzburger Festspielhaus gewesen sein dürfte: Damals sang die Norman über dem magischen Klangteppich, den die wiener Philharmoniker webten, den Liebestod aus Wagners Tristan und Isolde. TV-Kameras und CD-Mikrophone waren selbstverständlich dabei....