Von den leisen Klängen der Seele
Anja Harteros und Wolfram Rieger bewiesen bei den Salzburger Festspielen trotz widrigen Umständen, daß man heutzutage auch noch ganz innig Musik machen kann.
August 2010
Anja Harteros könnte es sich leicht machen. Sie verfügt über einen in allen Lagen gleichermaßen sicheren, strahlender Entfaltung mächtigen Sopran, den sie nur in den rechten strömenden Gesangsnummern nutzen müsste, um lauten Applaus zu ernten.
Sie tut es nicht.
Sie gibt bei den Salzburger Festspielen lieber einen von innigen Gefühlen geprägten, introvertierten Liederabend, in dem ein strafender Blick des Pianisten Wolfram Rieger genügt, um die wackeren Allzeitklatscher im Zaum zu halten.
Die werden zwar die Welt nicht verstanden haben: Warum darf man denn nach schönen Tönen nicht gleich begeistert sein? Doch offenbart das lediglich einen bemerkenswerten Aspekt unserer musikalischen Museumskultur. Die Ausstellungsform namens Liederabend ist ein Auslaufprodukt. Daß man klug geplante und dramaturgisch behutsam abgestimmte Liedgruppen nicht unterbricht, weiß ein kundiges Publikum, das den guten alten Brauch des bürgerlichen Musikbetriebs von Jugend an mitbekommen hat.
Hört man, was man vernehmen könnte?
Diese aussterbende Spezies füllt kein Festspielhaus. Auch nicht das kleinere der beiden in Salzburg, das nach dem Umbau zu einem angeblichen „Haus für Mozart”, wie sich zeigt, nicht einmal mehr zum Haus für Richard Strauss taugt. Die Akustik ist dank der sterilen Steinarchitektur von seltsamer Taubheit. Man vernimmt zwar die Töne, die da vorn auf der Bühne produziert werden, doch bleibt die Distanz zu ihnen auch bei fühlbar intensiver Klangentfaltung die vorrangige Empfindung.
Man kann erahnen, wie die leuchtkräftigen Töne, die eine Anja Harteros hervorbringt, in einem besseren Saal klingen würden, welchen Effekt das machen könnte, wenn das subtil differenzierte Klavierspiel Wolfram Riegers solchen Edelklängen die harmonische Fassung verleiht.
Aber diese Ahnung hinterläßt in diesem Fall bereits eine beeindruckte Hörerschaft.
Subtiles Helldunkel
Harteros und Rieger verzichten auf jeden billig eingefahrenen Erfolg. Nur an ganz wenigen Punkten der imaginären Handlung ihres Liedprogramms verwöhnt die edel Stimme mit all der funkelnd-üppigen Pracht, zu der sie fähig ist - am Ende der Strauss'schen „Zueignung”, die das offizielle Programm beschloss, steigert sich das „Habe Dank!” tatsächlich mit überwältigender Strahlkraft.
Doch zuvor herrscht behutsam registrierte Clair-obscure-Kunst, ein beständiges Ausloten unterschiedlichster Stimmungsvaleurs, die sich aus den Seelenprotokollen von Poeten wie Richard Dehmel, Heinrich Heine, Eduard Mörike, Friedrich Rückert und anderen via musikalische Dechiffrierung ergeben: Schubert und Wolf, Brahms und Strauss konfrontierten die beiden Künstler an diesem Abend miteinander. Die anfangs mit der „Allmacht” aufgerufene Göttlichkeit kehrt in wechselnder Gestalt immer wieder. Selbst die Tonartenfolge der Lieder beschwört ein vorsichtig modellierendes Auf und Ab der Empfindungen - und das Spiel des Pianisten verwandelt sich so feinsinnig-unmerklich wie die zu jeglicher Farbmischung fähige Singstimme.
Ein solcher Abend, der einen eminenten Prozentsatz des Festspielpublikums spürbar dazu bringt, innezuhalten und sich einer in unseren Tagen völlig unüblichen Introspektion hinzugeben, läßt einen für kurze Frist daran glauben, daß noch nicht alle Werte unserer Kunstwelt auf dem Altar der Public-Relations-Vermarktbarkeit geopfert worden sind.
Solange die kleinen Ausstellungsräume im großen „classics.com”-Museumssupermarkt nicht mangels Rentabilität
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