*** SINKOTHEK ** PORTRAIT ***

Placido Domingo

letzte Eroberungen des Tenors, erste Ausflüge ins Baritonfach

Siegmund heiß' ich, Barbier von Sevilla bin ich

Vor dem Rollendebüt Domingos als Siegmund hat er mit Claudio Abbado Rossinis Barbier von Sevilla aufgenommen.
Ein Feuilleton in der PRESSE vom 19. Dezember 1992

Waltraud Meier und Domingo:
Wiens Wälsungenpaar als "Grenzpartiegänger"

Wie das ausgeht, weiß man frühestens am Samstag, spätabends. Da sind die ersten beiden Akte der "Walküren"-Premiere in der Wiener Staatsoper zu Ende gegangen. Und Siegmund kann mit seiner Sieglinde hinter der Bühne vielleicht schon ausgiebig auf einen Erfolg anstoßen, während sich Brünnhilde noch umständlich von Allvater Wotan in den feuerumloderten Schlaf küssen lassen muß.

Vielleicht - denn die Staatsoper geht mit dieser Neuproduktion im Rahmen ihres "Ring"-Projektes gleich ein doppeltes Risiko ein. Nicht nur wird mit der "Walküre" die im "Rheingold" heftig umstrittene Inszenierung Adolf Dresens in Herbert Kapplmüllers Bühnenbildern fortgesetzt - in eiszeitlich nordischen Gefilden, wie zu hören ist, und angeblich auch mit vulkanösem Brimborium anläßlich des Feuerzaubers.

Zudem aber stehen neben "Walküren" bewährten Darstellern für Wotan (Robert Hale) und Brünnhilde (Hildegard Behrens) auch zwei Debütanten auf der Bühne, die das Interesse des Publikums schon anläßlich der Vorankündigung wachgerufen haben: Placido Domingo singt nach Lohengrin und Parsifal erstmals den Siegmund, seine dritte Wagner-Partie. Ihm als Zwillingsschwester zur Seite: Waltraud Meier, bestens bekannt als Kundry aus dem Bayreuther Festspiel-"Parsifal", in Wien zuletzt als Eboli in einer "Don Carlos"-Serie erfolgreich.

Beide Sänger sind für erstaunliche Grenzgänger-Leistungen bekannt. Die Zuordnung zu einem bestimmten Genre im Opernleben stimmt für Domingo beispielsweise seit langem nicht mehr. Viel zu oft wagt er sich an Wagner, zuletzt auch an Richard Strauss, als daß man derartige Aktionen leichthin als "Seitensprünge" abqualifizieren dürfte.

Wer seinen Kaiser in Georg Soltis Schallplattenaufnahme der "Frau ohne Schatten" gehört hat, weiß, daß es Domingo dabei keineswegs darum geht, mit einem weiteren "Gimmick" die Serie der staunenswerten und medienwirksamen Begebenheiten in seinem Künstlerleben spektakulär zu erweitern; einen besseren, klüger auf die Intentionen des Komponisten eingehenden Kaiser wird man in der Plattengeschichte nämlich kaum finden können.

Siegmund und Sieglinde als "Samson und Dalila"

Ähnliches gilt für die jüngere Waltraud Meier, die in aller Ruhe an ihrer Karriere gearbeitet hat und heute - man meint: unversehens - als Star, oder besser: als Kapazität im internationalen Opern-Business dasteht. Der Idealtyp einer "denkenden" Sängerin, die nicht nur mit optischen, sondern auch mit stimmlichen Mitteln zu "schauspielern" versteht, Emotionen, leise Gefühlsregungen vermitteln kann, oft mit nur minimalen, dafür goldrichtig plazierten Nuancierungen.

So stand sie an Domingos Seite jüngst in der Pariser Bastille-Oper als Dalila in Saint-Saens' "Samson" auf der Bühne und machte nicht nur die Verführungsszene zu einem Ereignis. Die Schallplattenaufnahme hat diese erste Zusammenkunft des Wiener Wälsungen-Paares als musiktheatralisches Ereignis dokumentiert, hörenswert auch, weil sich in Myung-Whun Chung nach dem Barenboim-Eklat offenkundig ein Dirigent für die musikalische Leitung des Hauses gefunden hat, der auf ganz hervorragende Weise Orchester und Chor zu stimmungsvollem, spannungsgeladenem Musizieren zu animieren versteht. Ein Live-Mitschnitt, der aus dem Plattenkatalog nicht mehr wegzudenken sein wird.

Anders verhält es sich mit Domingos Experimenten im "leichteren" Genre. Die neue Aufnahme des "Barbiers von Sevilla" wird man nicht leichten Gewissens als bedeutende Bereicherung der Rossini-Diskographie bewerten dürfen, nimmt sie sich doch eher wie ein verspätetes Requiem auf den Belcanto aus. Nicht nur weil Domingo als Figaro, sozusagen ein Experimentalwagnis in der entgegengesetzten Richtung, sich auf den lockeren Parlandoton, der da gefordert ist wirklich nur mit Mühe versteht, sondern auch weil Kathleen Battle ohne Bühnenoptik ihre Koloraturen allzu eindimensional und darüber hinaus nicht immer gefahrlos abspult und auch der Rest der Besetzung keinesfalls für den eleganten Ziergesang begabt scheint. (Da hat die Debüt-Einspielung von Cecilia Bartoli vor einigen Jahren ganz andere Maßstäbe für unsere Tage gesetzt und bleibt die eine, den Musikfreund beruhigende Ausnahme im CD-Meer.)

Domingo im Baritonfach: Der neue Barbier

Die neue Platte scheint eher ein Fall für Domingo-Sammler, die alles von ihrem Idol besitzen wollen, und für Kuriositätensammler, die auf diesem Wege vielleicht entdecken können, daß Frank Lopardo immerhin ein Tenor ist, der seine zwar unauffälligen stimmlichen Mittel auf höchst kultivierte, männlich timbrierte und doch differenzierende Weise einzusetzen weiß. Und daß Rossini-Spezialist Claudio Abbado mit dem allzu derb klingenden Chamber Orchestra of Europe keineswegs an die spritzige Gesamtleistung anschließen kann, die er seinerzeit als Begleiter von Hermann Prey im Plattenstudio schon erzielt hat.

Immerhin: Wer für die "Walküre" auch auf dem Schwarzmarkt keine Karten ergattern konnte, oder wem diese einfach zu teuer waren, kann sich für vergleichsweise wenig Geld das Traumpaar Meier/Domingo in einem herrlichen Stück französischer Musik ins Wohnzimmer holen; oder Domingo in höchst unterschiedlichen Gestalten bewundern. Die Industrie macht's möglich.

↑DA CAPO