SINKOTHEK - PORTRAIT: Natalie Dessay

Die Karriere einer Sopranistin in Interviews gespiegelt:

* 1997 war sich die Künstlerin sicher „nie die Traviata“ singen zu können.

* 2011 debütierte sie dann in dieser Partie - und grübelte nach warum ihre Stimme zu klein sei, faszinierende Rollen wie die Isolde zu bewältigen.


Die internationale Karriere der Natalie Dessay begann in Wien. Die Staatsoperndirektion war in Not, denn für die Premiere von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ war die Interpretin der drei großen Frauen-Rollen abhanden gekommen: Cheryl Studer hatte abgesagt. Man fand in kurzer Frist drei verschiedene Sängerinnen als Ersatz, darunter für die Puppe Olympia die blutjunge Französin aus Bordeaux.

Sie war ein Geheimtip unter Kennern, seit sie 1992 in dieser Partie an der Pariser Oper debütiert hatte und war in Wien in der nämlichen Saison bereits als Blondchen in Mozarts „Entführung aus dem Serail“ engagiert.

Im neuen „Hoffmann" erlebte man nun freilich den furiosen Auftritt der quirligen Künstlerin an der Seite von Placido Domingo. Der war am Premierenabend in Hochform, Bryn Terfel brillierte vokal und gestalterisch in den Partien der Bösewichte. Doch die fulminanten Koloraturen der jungen Sopranistin entschieden das Spiel gleich im ersten Akt: Natalie Dessay war der absolute Star des Abends.

In der Folge brillierte Natalie Dessay - einer Stimmkrise Anfang des neuen Jahrtausends zum Trotz - in so unterschiedlichen Partien wie der Königin der Nacht, der Lucia di Lammermoor, der Mélisande und Sonnambula, als Massenets Manon und 2011 auch als Violetta, in einer Partie, von der sie früher bedauernd gemeint hatte, sie würde nie zu ihren Rollen gehören.

2013 zog sich Dessay von den Opernbühnen zurück, widmete sich Auftritten als Schauspielerin und Interpretin von Chansons - unter anderem an der Seite von Michel Legrand.

Den Gegenpol dazu markiert vielleicht die hörenswerte Bach-CD, die Dessay mit Emmenuelle Haim 2008 herausgebracht hat: feinnsinnig modellierte Aufnahmen dreier Kantaten des Thomaskantors, darunter „Jauchzet Gott in allen Landen“.

Das erste Interview nach dem sensationellen Debüt als Puppe Olympia in „Hoffmanns Erzählungen“. Natalie Dessay hat Wiens Opernpublikum im Sturm erobert.
Dem Interviewer erteilt sie eine Lektion in französischem Charme. Da herrscht Koketterie, aber mit Augenmaß - im wahrsten Sinn des Wortes. Kein Zweifel: Diese junge Künstlerin weiß, was sie will und wie das zu erreichen wäre.
Ein selbstbewußtes "ich warte", zieht sich wie ein Ariadnefaden durchs Gespräch, geführt am 30. Dezember 1993

I. Das Interview 1993

Die Stufen des Erfolgs sind vor ihr aufgebaut: Die nächsten Jahre wird sie durch Residenzverträge mehrere Monate an die Staatsoper gebunden sein. 1994 singt sie an der Met und an der Mailänder Scala.
"Es kommt schon langsam", kommentiert sie, was man anderswo eine blitzartige Karriere nennen würde. Auch, daß sie ihre Traumpartie, die Lucia di Lammermoor erst "in zehn, fünfzehn Jahren" singen wird, glaubt man der jungen Künstlerin nicht. "Na ja", sie verdreht die Augen, "vielleicht auch ein bißchen früher". Man darf gewiß sein, daß sie genau wissen wird, wann die Zeit reif ist.

Im Moment schwärmt sie von ihrer Kollegin Andrea Rost: "Ich gehe sehr oft in die Oper hier, mich interessiert das. Man sieht sehr gute Aufführungen. Und furchtbare Inszenierungen" - die Schauspielerin Dessay kann bei solchen Gelegenheiten auch auf Befehl schielen. "Aber die Rost als Lucia: Sie hat eine große, lyrische Stimme, das ist genau das Richtige".

Ihre eigene Stimme scheint ihr noch viel zu wenig lyrisch, ein typischer Koloratursopran, prädestiniert für die Zerbinetta oder die Königin der Nacht? "Nein", sagt sie resolut, "für die Königin braucht man eigentlich eine sehr dramatische Stimme. Außerdem ist es eine ziemlich langweilige Partie, obwohl sie für mich natürlich kinderleicht ist. Ich weiß gar nicht, warum ich das für New York zugesagt habe. Ich hoffe, ich bekomme wenigstens einen Regisseur, der mehr aus der Rolle macht."

Inszenierungen sind der Sängerin, ganz Kind ihrer Zeit, offenbar wichtig. Sie weiß auch von allen Partien genau, wie sie anzulegen sind: "Die Sophie im Rosenkavalier zum Beispiel ist kein schüchternes, langweiliges Mädchen, sie erhebt sich gegen alle. Richtig frech. Find' ich toll", kommentiert sie in einwandfreiem Deutsch.

Als Kind aus nicht gerade musischem Haus in Bordeaux hatte Natalie Dessay Tänzerin werden wollen. "Mit 13 wußte ich, daß ich dafür nicht talentiert genug war". Dann hieß das Ziel Theater. "Aber es gab für Schauspieler in Paris", ihrer Wahlheimat, "nichts zu tun. Ich wollte nicht arbeitslos sein." Diese Sorge ist sie nun los.

In einer Molière-Aufführung hatte sie ein kleines Lied zu singen. Womit ihr Schicksal besiegelt war: Man hatte ihre Stimme entdeckt. "Singen war für mich so einfach. Während ich die anderen beobachtet habe, die sich abgeschwitzt haben für jeden Ton, habe ich mir gedacht: Vielleicht ist das doch mein Beruf."
1991 sang sie dem designierten Generalsekretär der Wiener Staatsoper, Ioan Holender, vor: "Vorher dachte ich, ich bekomme vielleicht ein paar Gastabende". Danach war sie - mit Beginn der (kurzen) Direktionszeit Eberhard Waechters - Ensemblemitglied des Hauses. In der Silvester-"Fledermaus" galt sie bereits als "Stargast" - die Vorstellung wurde live im Fernsehen übertragen.

"Ich will auch ein Star werden", sagt sie, "damit mir niemand mehr sagen darf, was passiert, sondern ich bestimmen kann: So ist es."
Wozu nicht mehr viel fehlen dürfte. Wien hat für den neuen Liebling ein "tolles Premierenprojekt" parat: 1995 wird sie Richard Strauss' "Schweigsame Frau" sein. Eine "Traumrolle", wie später Lucia, Massenets Manon aber auch, man glaubt es gern, die Lulu.
Und im Konzert? "An Liedern arbeite ich, denn ich liebe das. Und Mozartkonzertarien würde ich überall singen. Außerdem fasziniert mich Bach. Aber so etwas hat man mir noch nicht angeboten. Ich warte noch."

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Die Königin der Nacht der Salzburger Festspiele 1997 weiß sicher: „Ich werde nie die Traviata singen können.“

II. Das Interview 1997

Sie singen in aller Welt die „Königin der Nacht“. Das ist das Los aller großer Koloratursopranistinnen, die darunter leiden, daß ihnen ein großer Teil des Repertoires verschlossen bleibt. Geht es Ihnen ähnlich?
Dessay: Es tut mir zum Beispiel weh, daß ich nie die „Traviata“ singen werde. Meine Stimme wird sich nie in diese Richtung entfalten. Und das schmerzt, denn ich fühle, daß ich diese Rolle gut spielen könnte. Auch bei Mozart wird die Susanna, die ich 2001 unter Riccardo Muti im Theater an der Wien singen werde, wahrscheinlich meine letzte Partie. Ich bin immer für Glaubwürdigkeit am Theater gewesen. Da kann ich nicht mit fünfzig die Lucia singen. Ich höre mit fünfundvierzig auf und werde Agentin.
Worauf können die vielen Verehrer, die sie seit ihrem sensationellen Debüt in „Hoffmanns Erzählungen“ gewonnen haben, dann noch hoffen?
Dessay: Zum Beispiel auf Alban Bergs „Lulu“. Die kommt in Wien in einer Neuinszenierung unter Michael Boder heraus. Und zwar in der zweiaktigen Fassung. Wobei ich hoffe, daß zumindest die Todesszene aus dem Finale dargestellt wird. Aber ich gebe zu, daß das Paris-Bild aus dem fertiggestellten dritten Akt zu lang ist.
(ANM. Ihre Mitwirkung an der "Lulu"-Premiere hat Dessay dann abgesagt.)
Und aus dem Belcanto-Repertoire?
Dessay: Da kommt „Sonnambula". 1999. Und 2001/02 kommt meine erste „Lucia”. Die wollte ich eigentlich später erst singen. Aber das Leben ist so kurz.
Das können Sie doch noch nicht sagen. Sie stehen am Beginn einer großen Karriere.
Dessay: Na, ich will aber mit 45 aufhören. Für meine Rollen muß man frisch und jung ausschauen. Als reife Frau kann man kein junges Mädchen spielen. Das wirkt immer lächerlich. Ich habe immer gesagt: „Ich will, daß es auf dem Theater glaubwürdig zugeht. Da kann ich nicht mit 50 Lucia singen.“
Glauben Sie nicht, daß Ihnen die Bühnenluft abgehen wird?
Dessay: Sie wird mir nicht abgehen, weil ich bei der Sache bleiben will. Ich will junge Sänger auf den richtigen Weg bringen.
Das könnten Sie doch auch als Lehrerin.
Dessay: Ja, aber dafür tauge ich nicht. Es nervt mich, wenn einer nicht gleich umsetzen kann, was ich sage. Das liegt in meinem Naturell. Ich will weitergeben, was ich weiß. Und das kann ich, glaube ich, am besten als Agentin. Da hat man eine Firma, ein Team und kann mit den Leuten wirklich arbeiten. Es muß schön sein, wenn man ein 20jähriges Talent entdeckt und dann in weiteren 20 Jahren zu einem fertigen Künstler formen kann. Diese Entwicklung mitzugestalten und zu verfolgen, davon träume ich.
Das klingt wie ein Wunschtraum. Ist das eine Art der Betreuung, die Ihnen selbst abgeht?
Dessay: Nein, nein. Im Gegenteil. Meine Agentin berät mich gut. Sie denkt auch an meine Familie. Wenn mein Kind einmal in die Schule geht, wir also seßhaft werden müssen, dann will ich weniger arbeiten. Ich habe ja kaum Zeit, wirklich an mir und meiner Stimme zu arbeiten. Ich will auch mehr Liederabende machen. Und lesen. Und lernen.
Wieviele Auftritte absolvieren Sie jetzt pro Jahr?
Dessay: Fünfzig. Das ist das absolute Maximum. - - -

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Im Herbst 2011 war es dann doch so weit: Zum Auftakt der zweiten Spielzeit der Ära Dominique Meyers debütierte Natalie Dessay an der Wiener Staatsoper als Violetta. Erneut stellte sie sich einem Interview und erklärte, wie sie Grenzen sprengt.

III. Das Interview 2011

,,Ich hätte ja nie gedacht, daß ich diese Partie je singen würde“, sagt Natalie Dessay und korrigiert sich gleich: ,,Daß ich sie singen darf! Dürfen ist das richtige Wort.“
Die Produktion der Wiener Staatsoper kam von den Festspielen in Aix en Provence, wo im Sommer 2011 das viel beachtete Debüt der Sopranistin in der Titelpartie stattgefunden hatte.
,,Natürlich“, sagt die Dessay, ,,ist in Wien die viel bessere Akustik. Und das unglaublich gute Orchester. Das sind natürlich herrliche Bedingungen." Die Violetta zu singen, bewertet sie für sich dennoch als waghalsig: ,,Eigentlich gehe ich damit über meine Grenzen hinaus“, bekennt sie, ,,und ich weiß das natürlich ganz genau.“

Als unkontrolliertes Bühnenwesen ist sie nicht bekannt. Im Gegenteil. Natalie Dessay hat sich seit ihrem triumphalen Durchbruch anlässlich der Wiener Premiere von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“, 1993, jeden Schritt genau überlegt. Damals war sie die Olympia – mit unglaublichen Spitzentönen, die Abend für Abend für Applausorkane sorgten.
Ab dann war das Koloraturphänomen Dessay ein internationaler Begriff – und eroberte sich sämtliche wichtigen Opernhäuser und die passenden Rollen; bis hin zu Donizettis ,,Lucia di Lammermoor“.
Was diese Partie betrifft, philosophiert die Künstlerin weiter: ,,Ich hätte ja am Anfang in Wahrheit auch nie geglaubt, daß ich je die Lucia singen würde. Aber als ich dann als Lucia auf der Bühne stand, habe ich mir irgendwann einmal gedacht: Vielleicht kommt doch einst die Traviata . . ."
Wenn sie sich selbst taxieren müßte, dann ist Donizettis Heldin die wahre Heimat ihrer Stimme: ,,Da bin ich, glaube ich, wirklich zu Hause. Die Violetta ist bestimmt ein bisschen über der Grenze für meine Stimme. Aber ich freue mich, diese Figur hier in Wien auf die Bühne bringen zu können, weil es, sagen wir, eine echte Frauenrolle ist, eine Rolle mit vielen Farben, Facetten: Sie ist eine Prostituierte, aber sie hat trotzdem eine reine Seele. Sie weiß, daß sie diesen Mann nicht lieben sollte, aber trotzdem liebt sie ihn. Sie will mit ihm leben, aber trotzdem leistet sie Verzicht. Es sind so viele Komplikationen – und das macht die Aufgabe so lebensecht.“

Und suggeriert, das Wagnis zu unternehmen. ,,Viele Momente der Violetta liegen sehr tief für meine Stimme. Es ist, das ist mir völlig klar, alles andere als eine Koloraturpartie. Der Schluss des ersten Aktes, gewiss, da sind Koloraturen und Höhe gefragt – aber das ist natürlich Verdis Genie, das ein bewegendes Charakterporträt zeichnet: Jeder Ton hat seinen Sinn.“ Natalie Dessay wird auch das berüchtigte hohe Es am Ende der Cabaletta singen, ,,obwohl es, wir wissen das, nicht in den Noten steht. Aber ich denke die ganze Musik ist danach, daß dieser Ton gesungen werden darf. Er passt musikalisch, aber auch gefühlsmäßig einfach perfekt dazu. Die Musik beschreibt das Dilemma, in dem sich diese Frau befindet. Abgesehen davon, daß die Zuhörer wohl sehr enttäuscht sein würden, wenn ein hoher Sopran auf diesen Spitzenton verzichtet . . .“

Ein hoher Sopran ist die Dessay über die Jahre ihrer Karriere hin geblieben. Während Kolleginnen im Lauf der Entwicklung an Höhe einbüßen, hat ihr Sopran keinen Schaden genommen. „Dafür fehlt mir vieles, was ich gern hätte, um interessante Rollen zu gestalten. Ich hätte gern einmal eine Tosca gesungen, Salome oder sogar Brünnhilde. Aber ich bin begrenzt mit meiner blöden Stimme, die zu hoch ist und zu klein. Ich kann nicht einmal die Susanna im ,Figaro' singen, geschweige denn die Gräfin. Oder die Elettra in ,Idomeneo'. Da bliebe mir nur die fade Ilia . . ."

Natalie Dessay kann beinah in Rage geraten, wenn sie darüber nachgrübelt, welche Gestaltungsmöglichkeiten ihr verwehrt bleiben. So ergänzt sie denn auch: ,,Ich hatte ja in Wahrheit nie eine Leidenschaft für die Oper – meine erste Oper, da war ich 15, war der Tristan und ich habe das scheußlich gefunden –, sondern ich habe eine Leidenschaft für das Schauspiel. Ich möchte Theater spielen; bin daran mehr interessiert als viele meiner Sängerkollegen. Eigentlich würde ich demnächst gern aufhören zu singen und wirklich zum Sprechtheater gehen. Vielleicht liest das ja ein Direktor und engagiert mich?"
Jetzt lockt aber vorerst doch noch die ,,Traviata“, später, sagt Natalie Dessay, ,,vielleicht einmal alle großenFrauenpartien in ,Hoffmanns Erzählungen', vielleicht dann auch noch Bellinis ,Puritani' – das ist zwar langweilig zu spielen, aber sehr schöne Musik. Aber dann?“

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