Guiomar Novaes

1896 - 1979

Geboren und aufgewachsen in einer kinderreichen, armen Familie aus der Region um São Paulo wurde die Brasilianerin eine der herausragenden Vertreterinnen des romantischen Klavierstils, eine Stilistin von exzeptionellem Rang, der pianistische Ausnahmestellung in Europa kaum gewürdigt wurde. Vor allem in deutschsprachigen Landen blieb Novaes so gut wie unbekannt, obwohl sie in Wien einige hochrangige Schallplattenaufnahmen - unter anderem mit den Symphonikern unter Otto Klemperer - gemacht hat.

Einer der Lehrer der jungen Guiomar Novaes in Brasilien war Lugi Chiaffarelli, der seinerseits bei Busoni studiert hatte und auf dessen pädagogische Betreuung die Künstlerin stets ihre subtile, hochvirtuose Anschlagskultur zurückgeführt hat. Doch studierte Novaes in Paris auch bei dem Exil-Ungarn Isidore Philipp, der wiederum »Enkelschüler« sowohl Frédéric Chopins als auch Franz Liszts war, wobei bereits ihre Aufnahmeprüfung eine Jury mit Bestnoten bewertete, der Gabriel Fauré und Claude Debussy angehörten! Debussy äußerte sich sogar in einem Brief berührt ü ber das Spiel der jungen Künstlerin.

Schon anläßlich des Berlin-Debüts der 17-jährigen pries ein Rezensent ihre technischen und musikalischen Qualitäten:

Dieses Mädchen stellt eine merkwürdige Kombination von frischem, unberührte Instinkt und geradezu reifer Kultur dar. Welch' eine intensive Pflege muß sie zum Beispiel auf ihre Anschlagsnuancen verwandt haben, und doch merkt man bei der Fülle der Varietäten in der Anwednung niemals so etwas wie Absicht, Kalkulation. Hier hat einmal die musikalische Erziehung ein förmlich ideales Entgegenkommen gefunden, un das bewundernswürdige Resultat ist eine völlige Harmonie zwischen Wollen und Können.

Später gastierte Novaes wiederholt in Berlin, 1917 engagierten sie die Philharmoniker für eine Aufführung des Grieg-Klavierkonzerts, unter anderem kehrte sie auch in der Frühzeit der Ära Wilhelm Furtwänglers zurück, mit dem sie in der Philharmonie 1926 das Schumann-Konzert interpretierte.

Die US-amerikanischen Rezensenten reagierten auf das Debüt der 19-jährigen in der New Yorker Aeolian Hall euphorisch, nannten sie ein »pianistisches Genie« und der allmächtige »Times«-Kritiker James Huneker gab ihr in Anspielung auf den damals höchstgehandelten Ignaz Paderewski und ihre südamerikanische Herkunft den Titel einer »Paderewska der Pampa«. Später fühlte sich Hunekers Nachfolger Harold Schonberg bei Novaes' Schumann-Interpretation an Josef Hofmann erinnert, so ziemlich das lobendste Urteil, das von ihm zu erwarten war.

Erbin der Romantik

Novaes führte das (später so oft verkannte, in Wahrheit auf glasklare Transparenz bedachte) Erbe der pianistischen Romantik tief ins XX. Jahrhundert weiter. Sie konnte perlende Klangkaskaden sauber gegen melodische - oft sogar mehrstimmige Linien absetzen und bewahrte selbst in heikelsten Momenten etwa in Chopins Etüden vollkommenes klangliches Ebenmaß und perfekte Stimmentrennung. Dabei atmete ihr Spiel einen romantischen Zauber, der die Musik über alle technischen Kunstfertigkeiten hinweg in die Regionen des über solche Fragen erhabenen poetischen Ausdrucks hob.

Aufnahmen

Nicht zuletzt die Chopin-Aufnahmen beweisen Novaes' künstlerisches Potential beeindruckend: Die Etüden (beide Serien, aufgenommen 1953) stehen für Kenner ganz oben auf der Liste der wichtigsten Einspielungen, nicht minder die Nocturnes, (1954) bei denen die Pianistin bei außergewöhnlicher Klarheit des Klangbilds jeglicher Larmoyanz entgeht (Musik statt Pose), während sie bei den Etüden dank vollkommener technischer Beherrschung Zeit findet, sie auch expressiv und bildhaft zu gestalten (Musik statt Show).

Etliche Aufnahmen der Künstlerin entstanden in Wien, wo sie kaum öffentlich konzertierte im Plattenstudio für VOX, für Sammler besonders interessant davon jene, die die Zusammenarbeit mit Otto Klemperer dokumentieren. Freilich, Harold Schonberg, damals längst New Yorks Kritiker-Papst, monierte für die Einspielungen von Chopins F-Moll-Konzert und Beethovens Viertem Klavierkonzert den freien Atem, den er von der Pianistin gewöhnt war. Offenbar, so Schonbergs Schlußfolgerung, sei Novaes vom strengen Klemperer und seinen gemäßigten - ein anderer Rezensent schrieb: »deutschen« - Tempi in eine gewisse Schreckstarre versetzt worden. Spätere Generationen hören hier doch eher zwei bedeutende Interpretin höchst gespannt am Werk.

In der Folge hat Novaes für VOX auch Aufnahmen mit Hans Swarowsky gemacht, in den Tempi eher den Hörererwartungen angepaßt, aber interpretatorisch weit weniger befriedigend. Immerhin kann man die Solisten dank dieser Wiener Studiositzungen mit de Pro Arte Orchester auch als sensible Mozart-Interpretin hören.

Unbedingt hörenswert die Aufnahme von Beethovens Fünftem Klavierkonzert mit den Bamberger Symphonnikern unter Jonel Perlea, der Novaes' fabelhafter Differenzierungskunst ein klangliches Experiment entgegensetzt und die frühe Stereophonie insofern nutzt, als er die Bläser mit den Streicher-Mittelstimmen allesamt rechts versammelt, was erstaunliche Hörerlebnisse vermittelt.

Die zeitgenössische Kritik feierte eher die Solo-Einspielungen Novaes', allen voran die Aufnahmen von Chopins Sonaten II und III, die Schonbergs Kollege im Gramophone-Magazin bei ihrem Erscheinen 1953 als
die besten Aufnahmen der beiden Werke im Katalog, abgesehen von Dinu Lipattis Einspielung der h-Moll-Sonate, die eine Klasse für sich darstellt.


In Reinkultur bewundern kann man das Spiel dieser Pianistin heute noch anhand ihrer Aufnahmen spitzfindiger Arrangement wie jenes, das Walter Gieseking von Richard Strauss' Ständchen gemacht hat. Hier wird die Kunst der klanglichen Registrierung unterschiedlichster koloristischer Schichten der Musik zu Ereignis - und man muß sich immer wieder in Erinnerung rufen, daß da eine Pianistin mit nur zwei Händen und insgesamt zehn Fingern auf den Tasten agiert. . . .

↑DA CAPO

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