Deutschlands Pianistenwunder des XXI. Jahrhunderts: geistsprühende Virtuosität.
Er kam in Nischnij-Nowgorod zur Welt, lebte aber seit Kindheitstagen in Hannover und studierte dort - nicht ohne eminente Integrationsprobleme, wie er später gestand - an der Musikhochschule Klavier. Der Emigrant wurde deutscher Staatbürger - und nicht zuletzt eine hymnische Kritik der damaligen FAZ-Kritikerin Elonore Büning, die ihn als Teenager bereits unter die bedeutendsten Pianisten reihte, machte ihn schlagartig berühmt.
Igor Levit hat es geschafft, diesem frühen Ruhm zum Trotz seine Pianistenkarriere von falschem, mit lediglich technischer Brillanz erreichten Star-Flitter freizuhalten. Seine Programme scheinen stets ausgeklügelt, seine Interpretationen zeugen von tiefem Verständnis für den Gehalt der Musik. Die makellose Technik ist lediglich Voraussetzung. Levit fängt da an, wo andere im besten Fall aufhören.
Daß er zudem gern politische Statements abgibt, daran hat sich sein Publikum gewöhnt. Er sieht das als wichtigen Teil seiner Künstlerpersönlichkeit. Im weitesten Sinn waren es auch politische Statements, daß er in den Zeiten, in denen während der sogenannten Corona-Pandemie der Jahre 2020/21, als das öffentliche Leben in aller Welt zum Stillstand kam, via Social Media allabendlich Konzerte aus seinem Wohnzimmer streamte. Mit täglich wechselnden Programmen. Selbst der deutsche Bundespräsident würdigte das, indem er den Künstler eines Abends von seiner Residenz im Berliner Schloß Bellevue aus streamen ließ.
Es wäre nicht Igor Levit gewesen, hätter er sich in diesem Rahmen nicht auch an eines der extremsten Werke der Musikgeschichte gewagt: Erik Saties Vexations, unzählige Wiederholungen der immergleichen, wenigen Takte Musik, die sich über 15 Stunden erstrecken, absolvierte Levit - → vor Kameras eines Streamingsdienstes - pausenlos in der Nacht vom 30. auf 31. Mai 2020.
Als die Zeiten wieder lockerer wurden, veröffentlichte Levit sein erstes Buch, das in der Zeit des Lockdowns entstanden war - und gab der »Presse« im April 2021 ein Interview.
ZUM INTERVIEW
Wenn er über sein Buch sagt: „Seit vergangenen Montag ist es jetzt da,“ dann schwingt in der Stimme ganz unverhohlen Freude mit, und doch läßt Igor Levit keinen Zweifel daran, daß das eine Freude ist, wie er sie unmittelbar nach einem gelungen Konzert empfinden kann. Sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Sache nun vorbei ist. „Das Schön an Musik“, sagt er, „daß sie keinen materiellen Wert darstellt wie eine Ledertasche, ein Auto oder Geld. Den höchsten Eindruck trägst Du mit Dir, sagt schon Ferruccio Busoni. Aber das Konzert ist zu Ende. Es existiert nicht mehr. In diesem schönsten Sinne ist es also nicht mehr interessant.“
Vielleicht ist das ein Grund, warum sich Igor Levit kaum je mit eigenen CD-Aufnahmen beschäftigt, wenn sie einmal veröffentlicht sind. „Ich höre die nie an“, sagt er, „mit den aufnahmen ist es wie mit den Konzerten: In dem Moment, wo ich spiele, sind sie das Wichtigste auf der Welt. Danach denke ich höchstens: Wo gehe ich weiter hin?“
Tatsächlich stellt das neue Buch wie jede CD-Aufnahme das Dokument eines bestimmten Moments darf: „Natürlich“, erinnert er sich an den Zyklus der Beethoven-Sonaten, die er für Sony ... aufgenommen hat, „das hat mir viel bedeutet, daß ich diese Aufnahme machen durfte,“ in jugendlichem Alter, „und nicht nur in dem Alter“, ergänzt er, „sondern überhaupt, dass ich die Beethoven-Sonaten aufnehmen durfte. Aber manche von diesen Aufnahmen sind 2018 entstanden. Wenn ich dieselben Stücke heute spiele, dann hat das nichts mehr mit dem zu tun, was ich damals gemacht habe. Das ist vergangen im wahrsten Sinne des Wortes.“
Um nicht mißverstanden zu werden, setzt Igor Levit freilich gleich nach: „Es ist nicht egal, was ich gestern erzählt habe. Aber ich hoffe doch sehr, daß ich in zehn Jahren anders bin als dieses Jahr. Alles andere wäre ja schrecklich.“
Wobei das Wort, meint er, „noch einmal anders wiegt als die Musik. Jedenfalls kann man ein Buch wieder aufmachen und noch einmal lesen.“ Musikalisch geht es dann doch um die Frage, wie eine Klaviersonate beim nächsten Live-Auftritt klingt. Wie auch immer sie auf dieser oder jener CD zu hören sein mag. Dass ein Interpret mit bestimmten Stücken noch einmal von vorn anfangen könnte, dass er „tabula rasa“ macht, als hätte er die Noten zuvor nie gesehen, daran glaubt Levit freilich nicht: „So funktioniert das Leben nicht! Tabula rasa, das war bei Adam und Eva. Aber seither nicht mehr.“
„Geburt und Tod“, sagt er hätten etwas mit „tabula rasa“ zu tun.
Was sich dazwischen ereigne, ließe sich immerhin neugierig beobachten. „Ich kann“, sagt er, „anhand von Beethovens ,Diabelli-Variationen’, die ich viel gespielt habe, feststellen, dass meine Staccati kürzer werden, dass Übergänge freier wirken, die Tempi selbstbewußter. Das geht einmal hier, einmal da weiter, von Aufführung zu Aufführung und eh du dich’s versiehst, hat sich das Werk verändert.“ Und der Interpret wohl mit ihm.
Levit beobachtet das auch an anderen Interpreten: „Ich bewundere zum Beispiel Christian Thielemanns Interpretation der Achten Bruckner sehr, fand schon die Aufnahme mit der Staatskapelle Dresden wunderbar, die vor vielleicht zehn Jahren entstanden ist, aber die Aufführung unlängst mit den Wiener Philharmonikern , wow! Und das hat nichts mit Tabula rasa zu tun. Thielemann hat das Stück immer wieder dirigiert.“
Obwohl gerade diese Symphonie ein Werk ist, für die notorisch eine gewisse Reife des Interpreten eingefordert wird. „Von der Aussage, man sei zu jung für ein bestimmtes Werk, halte ich gar nichts“, sagt Igor Levit, „es gibt keine Altersfreigabe für große Kunstwerke. Man lebt mit ihnen und verändert sich mit ihnen.“
Ein Exklusivvertrag mit Sony ermöglichte Igor Levit schon früh, große Projekte zu verwirklichen. Eine Gesamtaufnahme der Klaviersonaten Ludwig van Beethovens wurde zu einer der bedeutendsten Darstellungen dieses Werk-Zyklus in der jüngeren Aufnahmegeschichte.
Und die Edition mit drei CDs mit großformatigen Variationszyklen vereint, Bachs Goldbergvariationen, Beethovens Diabelli-Variationen und Rzewskis The People United erwies den ausgreifenden Repertoirebegriff des damals 28jährigen Pianisten - und nebenbei auch die politische Dimension, die er seiner Kunst geben möchte. Die Diabelli-Variationen standen übrigens bereits beim Abschlußkonzert von Levits Klavierstudium auf dem Programm: Er erreichte damit die höchste Punktezahl, die von der Jury je für einen Absolventen der Hannoveraner Hochschule vergeben worden waren . . .
Neun Jahre später, 2019, wurde Levit selbst Professor an diesem Institut.