Jorge Bolet

Pianist

1914 - 1990

Zwei Schwestern des aus ärmsten Verhältnissen in Havanna stammenden Jorge Bolet hatten es zu einem guten Leben in den USA gebracht - und sie vermittelten ihren kleinen Bruder ans soeben gegründete Curtis Institute in Philadelphia. Dort spielte Bolet im Alter von 12 Jahren vor. Er hatte das Klavierspiel bei seiner zehn Jahre älteren Schwester gelernt.
Am Tag als ich geboren wurde, hörte ich sie Klavier spielen. und danach täglich wieder. Ich wollte nie etwas anderes werden als Pianist.
Am Curtis Institute, dessen Klavier-Abteilung Josef Hofmann leitete, wurde niemand Geringerer als Leopold Godowskys Schwiegersohn David Saperton Bolets Lehrer. Ihm verdankt Bolet seine fabelhafte technische Meisterschaft. Im übrigen wurde Bolet nie müde, seine großen Vorbilder zu bennnen: Ich wollte einer von ihnen sein, meinte er über die Spitzenpianisten, die er in der New Yorker Carnegie Hall hören durfte:
Hofmann, Rachmaninow, Friedman, Moiseiwitsch, Rosenthal, Paderewski, Cortot, Gieseking, Backhaus.
1931 wurde Bolet auserwählt, in einem Wettbewerbs-Konzert mit Studentenkollegen einen Satz von Tschaikowskys b-Moll-Konzert unter Fritz Reiners Leitung zu musizieren. Unter den Juroren, die sich die jungen Talente anhörten, waren neben Josef Hofmann unter anderem Rachmaninow, Rosenthal, Godowsky, Alexander Siloti und der jüngste unter den allseits beachteten Weltstars: Vladimir Horowitz.

David Saperton hatte allen Grund, auf seinen Zögling stolz zu sein, zumal es ihm gelang, die durchaus nicht immer gegebene Lust Bolets zum nachhaltigen Üben anzustacheln. Als im Jahr 1938 Artur Rubinstein das Curtis Institute besuchte, prophezeite er Bolet als einzigem Kandidaten der großen Klavier-Klasse eine große Karriere. Bolet absolvierte am Curtis Institute übrigens auch die Dirigentenklasse Fritz Reiners - Leonard Bernstein war sein Kollege.

Eine Europa-Tournee Bolets wurde dank eines Stipendiums durch einen reichen Kubaner möglich. Und einer der Tutoren aus der Hofmann-Schule, Abram Chasins, vermittelte Bolet seinen ersten lukrativen Auftrag: Er durfte den Soundtrack für einen Hollywood-Film einspielen, in dem Dirk Bogard Franz Liszt mimte.

Der Einspringer vom Dienst

Dennoch kam die Karriere in den USA nur zähflüßig in Gang. Bolet war zuerst einmal der notorische Einspringer für Kollegen wie Van Cliburn, Arrau oder Glenn Gould, die im letzten Moment absagten. Schlagzeilen - auch in der New York Times - machte Bolet durch ein noch viel kühneres Einspringen: Er saß im Auditorium der Constitution Hall in Washington, um ein Orchesterkonzert zu besuchen, für das weder Dirigent noch Orchester rechtzeitig mit dem Zug eingelangt waren. So wurde ein Begleiter für eine junge Dame gesucht, die bereit war, Lieder zu singen. Er fand sich in Bolet, der nach der Gesangsdarbietung Chopins Scherzo in b-Moll spielte, aufdaß das Publikum bemerken sollte, daß da kein Amateur am Werk war. Der Erfolg war durchschlagend.

Zweiter Weltkrieg

Etliche Konzert Engagements waren die Folge. Doch man schrieb das Jahr 1944 - der kubanische Machthaber Batista wurde abgewählt; und Bolet, offiziell gerade Offizier der kubanischen Armee, war mit einem Mal ohne finanziellen Rückhalt.

Er wurde zum Kultur-Attaché in General MacArthurs amerikanischer Okkupations-Truppe in Tokio und schaffte es in dieser Funktion, die japanische Erstaufführung der populären Operette Der Mikado des englischen Duos Gilbert & Sullivan zu dirigieren.

Ersatz für Horowitz

Wiederum als Einspringer konnte er nach dem Abrüsten seine amerikanische Karriere fortsetzen: Horowitz sagte kurzfristig seine Mitwirkung an einer Aufführung von Rachmaninows Drittem Klavierkonzert in Pittsburgh ab. Bolet sprang ein und erhielt so enthusiastische Kritiken, daß Horowitz sofort wieder gesund wurde, um die Sonntags-Matinee wieder selbst zu spielen...

Donquixoterien

Doch Bolet hatte die Gabe, immer wieder auf kuriose Weise »anzuecken«. Anläßlich eines Gastspiels in Cleveland, das im übrigen höchst erfolgreich verlief, machte er den diesbezüglich hypersensiblen George Szell - vor seinen Orchestermusikern - auf einen Fehler in dessen Dirigierpartitur aufmerksam; ein Fauxpas, den ihm Szell nie verzieh. Bolet konnte in Cleveland erst nach Szells Rückzug wieder auftreten.
Derartige Fehltritte leistete sich Bolet immer wieder. Auch sein Management war nicht gerade geschickt, sodaß sich sein Ruhm eher unter Kennern verbreitete als daß die breite Musik-Öffentlichkeit auf ihn wirklich aufmerksam werden konnte.

Ein Mann für Kenner

So wurde Bolet eher ein Pianist für den Conaisseur, weltberühmt innerhalb des kleinen Kreises von echten Kennern der Klaviermusik. Seine Aufnahmen gelten bis heute nicht nur dank ihrer technischen Perfektion, sondern nicht zuletzt auch dank Bolets Sinn für Klang und Farben als herausragend.

Wobei man ihm kurioserweise des öfteren vorwarf, im Studio allzu perfekt zu agieren - seine langjährige Exklisiv-Firma RCA kündigte dem Pianisten eines Tages den Vertrag auf; er unterschrieb bei Decca, um eine bemerkenswerte Serie später Aufnahmen zu machen, darunter einige Werke, die kaum ein Pianist kommerziell einzuspielen wagte, etwa → Max Regers Telemann-Variationen.

Kenner reihen manche von Bolets Einspielungen heikler, auch formal schwer auszubalancierender Werke wie Robert Schumanns f-Moll-Sonate (Audite) unter die Dokumente singulärer Gestaltungskunst.
Und daß er als einer der wenigen Mutigen sich über einige der Etüden über die Chopin-Etüden von Leopold Godowsky gewagt hat, ist nicht einmal für einen Saperton-Schüler selbstverständlich; aber auch solche allerhöchste pianistischen Ansprüche - der Hörer meint manchmal, hier spiele ein Pianist mit sich selbst »vierhändig« - hat Bolet noch im hohen Alter scheinbar ohne Anstrengung gemeistert.

↑DA CAPO