Ginette Neveu

1919 - 1949

Sie starb an der Seite ihres Bruders bei einem Flugzeugabsturz - kaum 30-jährig war sie auf dem Weg zum Gipfel, eine der großen Geigerinnen des XX. Jahrhunderts: Ginette Neveu, eine Frau mit dunkler, sonorer Stimme und einem ebensolchen Geigenton, immer satt, volltönend auch im Pianissimo, behutsam die Qualität jedes einzelnen Tones auskostend auch im raschesten Tempo.

Der legendäre Schallplatten-Produzent Walter Legge beschrieb in einem Nachruf auf die Frühverstorbene seine erste Studiositzung mit der außergewöhnlichen Geigerin, die imstande war, in konzentrierter Arbeit - die sie auch während der Pausen, die das Philharmonia Orchestra vertragsgemäß einzuhalten hatte - nicht unterbrach, ein ganzes Violinkonzert innerhalb weniger Stunden veröffentlichungsreif einzuspielen. Des Abends, als alle schon dem Kollaps nahe waren, bat Neveu noch um eine halbe Stunde »Überdienst« - man gewährte ihr die Gunst; und die Aufnahme war vollendet. Als Legge die Künstlerin gegen halb zwölf Uhr nachts zum Hotel zurückbrachte, war sie enttäuscht, daß kein Restaurant mehr geöffnet hatte, in dem man den angebrochenen Abend noch gemütlich plaudernd auskosten hätte können . . .

Herbert von Karajan hatte Legge bereits überredet, mit der Geigerin das Beethoven-Konzert aufnehmen zu dürfen, für dessen Interpretation sie stets besonders gelobt worden war. Der frühe Tod Neveus verhinderte auch dieses Projekt.

Anhand der Kadenz und des Eintritts der Reprise im ersten Satz des Sibelius-Konzertes lassen sich die Eigenheiten von Ginette Neveus Spiel gut demonstrieren: Behutsam abwägend, beinah vorsichtig mag das zunächst klingen - und doch packt die Künstlerin den Hörer und führt ihn ihren Weg entlang, ohne ihn wieder loszulassen. Die Intonation ist makellos, die rhythmische Differenzierung punktgenau und die Phrasierung über alle Zäsuren und Atempausen hinweg quasi endlos - zwingend . . .


. . . und das, obwohl die Warner-Technik die Aufnahme zu Tode »renoviert«, und mit dem Rauschen auch den sinnlichen Glanz wegretuschiert hat, der das Mono-Original auf Schalplatten noch auszeichnete. Es bleibt genug an überwältigender Musikalität.

Die unter dem Patronat von Walter Legge eingespielten Konzert- und Kammermusik-Aufnahmen, darunter die Violinkonzerte von Sibelius (unter Walter Susskind) und Brahms (Isay Dobrouwen) sind in einer Box erschienen. (Warner)

Legendäre Beethoven-Deutung



Das Beethoven-Konzert in der vielgerühmten Interpretation der Künstlerin ist in zwei Live-Dokumenten greifbar: einmal unter Hans Rosbaud in einem deutschen Rundfunkmitschnitt, einmal unter Kussewitzky in einer Aufnahme von Neveus legendärer USA-Tournee 1947, erhalten in einer auch technisch exquisiten CD-Edition bei Pristine.
Die Beethoven-Aufnahme unter Willem van Otterloo, die in den Neunzigerjahren bei Tahra veröffentlicht wurde, läßt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht Ginette Neveu hören...



↑DA CAPO

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