Die Technik des Geigenspiels ist ja nicht schwierig, ich habe sie nach kurzer Zeit beherrscht. Es ist die Musik, für die man Jahre, ja ein Menscheleben braucht, wenn man sie meistern will.
Also sprach Nathan Milstein zu seinem Biographen Robert C. Bachmann. Ein Menschenleben lang stand dieser Geiger tatsächlich auf der Bühne - und galt technisch als nahezu unfehlbar, aber auch als musikalische Autorität. Er stammte aus Odessa und war schon als Kind darauf versessen Musik zu machen. Um seine Widerspenstigkeit zu besiegen, willigte die Mutter ein, ihn bereits als Vierjährigen Geige lernen zu lassen. Mit elf spielte er bereits öffentlich das Glasunow-Konzert.
In Leopold Auers Klasse
Mit 13 Jahren kam Milstein in die Klasse des legendären Leopold Auer. Dort war der Knabe glücklich:
Die Violine wirklich lieben gelernt habe ich in St. Petersburg. Ich liebte es, in Auers Klasse zu gehen, wo die Kinder alle um die Wette spielten, einer besser als der andere!
Auer war von Milsteins Arbeitswut begeistert und schenkte ihm einen Bogen. Milstein meinte dazu später:
Ich erfuhr zwar, daß es ein ziemlich billiger Bogen war, aber für den notorisch geizigen Auer war das eine besondere Geste!
Doch Auer zog es vor, in den Revolutionswirren St. Petersbrug zu verlassen, um nach Amerika zu gehen.
Milstein mußte sich in den unsicheren Zeiten allein durchschlagen, ging nach Odessa zurück und konzertierte dort ab seinem 17. Lebensjahr. Einer seiner frühesten Kammermusik-Partner war Vladimir Horowitz, mit dem er nicht nur durch die junge Sowjetunion tourte, sondern auch im Westen umjubelte Konzerte gab. Im damaligen »Petrograd« waren die beiden eine dauerhafte Sensation:
Wir konnten auftreten, so oft und wann wir wollten - immer waren wir ausverkauft. Wir konnten die anspruchsvollste Musik spielen - vom Barock bis zu den zeitgenössischen Komponisten wie Medtner, Prokofieff und Szymanowski - es hatte keinerlei negative Wirkung auf den Kartenverkauf. Man begrüßte und behandelte uns so wie heutzutage Rockstars.
Als noch der Cellist Gregor Piatigorsky zu den beiden stieß, waren die musikalischen »drei Musketiere« geboren, ein legendäres Klaviertrio, das es bald vorzog, im Westen zu bleiben.
Probleme in den USA
1927 ging es zu dritt erstmals über den Ozean in die USA. Nach dem Debütkonzert mußte sich jeder der drei für sich allein durchs Musikleben schlagen. In Amerika gingen die Uhren etwas anders als in Europa. Das Publikum war, was die Geiger betrifft, auf zwei andere Schüler von Milsteins Lehrer Leopold Auer fixiert: Jascha Heifetz und Mischa Elman, die Auers Erbe übrigens eifriger befolgten als er selbste, der sogar in Sachen Bogenhaltung eigene Wege ging.
Überdies musizierten zu jener Zeit in den Staaten aber noch Fritz Kreisler und Bronislaw Huberman, die als absolute Spitze galten. Aus Europa kamen wiederholt Adolf Busch, dem der amerikanische Gusto auch bald zu schaffen manchen sollte, und Josef Szigeti. Für Milstein wurde es eine Zeitlang schwierig, zumal noch jüngere Solisten nachdrängten, allen voran Yehudi Menuhin.
Durchbruch mit Glasunow
Es dauerte bis zu einem Auftritt mit dem Philadelphia Orchestra unter Leopold Stokowski im Jahr 1929: Mit Glasunows Violinkonzert brach das Eis. Die Kritik berichtete von einem
lebenssprühenden Russen, der auf seiner Geige magische Dinge vollbringen kann.
1930 folgte das Debüt in New York und sechs Jahre später war es ganz selbstverständlich, daß Arturo Toscanini für sein definitives Abschiedskonzert von New York Philharmonic Milstein als Solisten aufs Podium bat.
Geigender Globetrotter
Milstein wurde zu einem der gesuchten Geigerstars der ganzen Welt, pendelte zwischen Europa und Amerika und konzerteierte bis ins hohe Alter. Seine fabelhafte technische Meisterschaft ließ ihn nie im Stich. Erst ein komplizierter Bruch beendete seine mehr als sieben Jahrzehnte umspannende Karriere.
Nur um Deutschland machte der Künstler - wie viele seiner Kollegen, die ab 1933 dort »unerwünscht« waren - nach 1945 zunächst einen großen Bogen. Vor der Machtergreifung Hitlers war Milstein für das deutsche Publikum bereits ein Begriff. In Leipzig debütierte er unter Bruno Walters Leitung 1932 mit dem Tschaikowsky-Konzert, das so erfolgreich war, daß Walter ihn ermunterte eine Zugabe zu spielen und selbst auf dem Podium verweilte, während Milstein die gesamte (!) g-Moll-Sonate Bachs spielte.
Konzertmeister im Gewandhausorchester war damals ein gewisser Charles Münch, der als Dirigent das Tschaikowsky-Konzert später mit Milstein aufnehmen sollte...
Deeutschland nach 1945
Es war Vladimir Nabokov, der für die Entnazifierung des deutschen Musikbetriebs zuständig gewesen war, der Milstein eine Einladung zu einem von ihm organisierten Festival zukommen ließ. Mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern sollte er das Brahms-Konzert spielen - eine Begegnung, die zwar stattfand, aber auf beiden Seiten von großer Nervosität gekennzeichnet war. Der Auftritt war freilich ein Erfolg und Milstein in der Folge gern gesehener Gast auch wieder im deutschen Sprachraum.
Als Interpret war ganz nach dem Geschmack des Publikums der »Alten Welt«, er zog es sogar vor, bei Violinkonzerten der klassischen und romantischen Meister seine eigenen Kadenzen zu spielen.
Legendär sind Milsteins Einspielungen der Bachschen Solo-Werke. Vor allem die zweite von 1974 (DG) erlangte wegen ihrer makellosen Tongebung und subtilen Phrasierungskunst Kultstatus und wurde nicht nur digitalisiert, sondern auch auf Schallplatten in exzellenten Neupressungen wieder zugänglich gemacht.
Doch Milsteins Bach-Diskographie weist schon Mitte der Fünfzigerjahre eine Gesamtaufnahme des Sechserzyklus' aus - sie entstand für das amerikanische Label Capitol und gilt unter Kennern als Meilenstein in der Aufnahmegeschichte.
Wie mitreißend und bewegend Bach-Aufführungen Milsteins klingen konnte, beweist ein Livemitschnitt von den Salzburger Festspielen, wo der Geiger im August 1957, kurz nach Erscheinen seines ersten LP-Zyklus ein reines Bach-Programm spielte (Orfeo).
Das Glasunow-Konzert, das Milstein durch seine gesamte Karriere begleitet hat, gibt es in mehreren Versionen. Milstein hat es im Studio unter William Steinberg und Rafael Frühbeck de Burgos realisiert - und bei den Salzburger Festspielen 1956 einmal sogar in einer Fassung mit Klavierbegleitung mit seinem ständigen Klavierpartner Eugenio Bagnoli.
Singuläre Stellung in der Aufnahmegeschichte hat jedenfalls der Mitschnitt des Violinkonzerts von Karl Goldmark unter Bruno Walter aus New York, 1942. Dieses Stück ist mit ziemlicher Sicherheit nie wieder spannender und überzeugender, weil völlig frei von jeglicher Larmoyanz realisiert worden.
In derselben Konstellation Milstein/Walter gibt es freilich auch eines der besten Mendelssohn-Konzerte im - diesfalls reich bestückten - Katalog. Neben Beethovens Fünftem Klavierkonzert mit Rudolf Serkin wurde dies die bestverkaufte von Bruno Walters Schallplatten mit New York Philharmonic. Von den vier Mendelssohn-Aufnahmen, die Milstein gemacht hat, ist diese - obwohl in kleinen Sektionen jeweils mit Rücksicht auf die Spieldauer der Schellack-Seiten geschnitten - die, die am frischesten, spontansten wirkt. Wiewohl die Wiedergabe unter George Szell, live bei den Salzburger Festspielen 1957 mitgeschnitten, in gut bestückten Sammlungen ebenfalls nicht fehlen sollte.
Auf die Suche machen sollten sich Sammler auch nach dem New Yorker Livemitschnitt des Brahms-Konzerts unter Victor de Sabata von 1950, eine ungemein feurige Wiedergabe dieses Werks - allein der Eintritt der Solostimme ist ein Ereignis: bei großer Tonschönheit, von den raketenhaft aufsteigenden Attacken des Beginns bis zur ruhig und lyrisch strömenden Solo-Version des Hauptthemas.