Leopold Stokowski

1882 - 1977

Wo immer dieser Dirigent hinkam: Der Klang des Orchesters änderte sich innerhalb weniger Minuten nach der knappen Begrüßung durch den Maestro, ohne daß er viel hätte sagen müssen. Wenn es einen Dirigenten in der Geschichte der Dirigierkunst gegeben hat, der den Namen Klangmagier verdient hat, dann war er es. Leopold Stokowski konnte Puristen zur Weißglut treiben, das Publikum aber in Ekstase versetzen. Er ordnete alles - seine Konkurrenten meinten: in erster Linie die künstlerische Wahrheit - dem sinnlichen Klangerlebnis unter. Ob er damit wirklich so weit von dem entfernt lag, was sich die Komponisten gedacht hatten, bleibe dahingestellt: Als Orchestererzieher war dieser Mann eine singuläre Erscheinung; und Aufnahmen wie jene von Tschaikowskys Slawischem Marsch mit dem London Symphony Orchestra demonstrieren, was man als dirigierender Dompteur mit Klangimagination und den rechten Wünschen an die Tontechnik im äußersten Fall erreichen kann: Virtuoser hat keiner über Musiker wie Technikpersonal geboten.

Das machte Stokowski zum idealen Künstler des beginnenden Medienzeitalters - daß Walt Disney ihn zum Dirigenten für sein Fantasie-Filmprojekt gekürt hat, war kein Zufall. Stokowski war auch erbarmungslos, wenn es darum ging, Stück zu arrangieren und zu verkürzen, damit sie in den jeweiligen Zusammenhang paßten; ob der nun adäquat schien oder nicht. Der Zweck heiligte die Mittel, immer und überall - geklungen hat es immer wunderbar! Und skeptische Geister wie Igor Strawinsky, von dessen Sacre du printemps einige Passagen daran glauben mußten, ließen sich mit einer schönen Summe Geldes leicht beruhigen . . .

Nach den Jahren unter Stokowskis Führung blieb dem Philadelphia Orchestra beispielsweise das Gefühl für einen besonders farbigen, besonders schattierungsreichen Klang noch lange Zeit erhalten. Dieser Mann war prägend. Über Jahre hatte er seine Grundsätze - etwa, daß die Streicher bei der Bogenführung niemals einheitlich agieren durften, wie das in allen zivilisierten Orchestern Standard ist. Stokowski forderte den »feien Bogenstrich« und erzielte auf diese Weise einen blühenden, reichen Streicherklang.

Sorgfältig austariert war bei Stokowski der Bläserklang. Auf die rechte Balance verwendete er stundenlange Proben. Um seine Vorstellungen zu realisieren, improvisierte er auch immer wieder und verlange neue Orchesteraufstellungen. Einmal setzte er sämtliche Bläser auf die eine, die Streicher auf die andere Seite, dann sorgte er für eine komplette Durchmischung. Die Kontrabässe ließ er allerdings meist nach dem alten europäischen Muster als Hinterwand des Orchesterklangs fungieren. Allen Experimenten zum Trotz nannten die Kommentatoren das Erreichte dann stets magisch. Logisch zu erklären war der unverwechselbare Stokowski-Sound tatsächlich nicht. Man hat in Europa gern versucht, die amerikanischen Orchester generell in die Stokowski-Kategorie zu verbuchen - und dabei übersehen, daß nur einer diesen Klang überhaupt zu erreich verstand; er aber, vor welchem Orchester immer er stand!

Übernommen haben etliche Kollegen die virtuosen Arrangements, die Leopold Stokowski von Orgelwerken oder auch Opernfragmenten für den Konzertgebrauch arrangierte; einige fanden sogar seine Orchestrierung von Mussorgskys Bildern einer Ausstellung effektvoller als jene von Maurice Ravel.

Und apropos Arrangements: Wer die Bach-Bearbeitungen Stokowskis hört und sich mit Grausen abwendet, müßte schon erklären, inwiefern die mindestens ebenso krausen Bach-Bearbeitungen aus der Feder von Arnold Schönberg oder Anton von Webern die musikalische Strukturen deutlicher herausarbeiten und daher »zulässiger« sein sollten.

Was für ein Musiker Stokowski bei allem Sinn für Effekte war, läßt sich vielleicht am besten ermessen, wenn man hört, mit welcher Sensibilität er einen Rubatosänger wie Franco Corelli bei seinen Arien in der Live-Aufführung von Puccinis Turandot an der New Yorker Met (1961) quasi auf Händen getragen hat.

Und zeitgenössische Komponisten wie Olivier Messieaen fanden in Stokowski, wenn er einmal Feuer gefangen hatte, einen höchst ernsthaften Anwalt. Eine hingebungsvoller durchgearbeitete Aufführung der Ascension dürfte schwerlich denkbar sein.



↑DA CAPO