Karl Richter
(1926 - 1981)
Geboren in Plauen, erwies Karl Richter schon in jugendlichem Alter sein Musiktalent. Er durfte auf der Silberman-Orgel im Dom zu Freiberg/Sachsen seine Übungen absolvieren und der legendäre Karl Straube akzeptierte ihn als seinen letzten Schüler.Mit 22 wurde Richter Organist der Leipziger Thomas-Kirche und tauchte damit tief in die große Bach-Tradition ein. 1951 floh er mit leichtem Gepäck aus der DDR, um zunächst in Zürich seine Zelte aufzuschlagen.
Doch bald wurde München seine Wahlheimat.
Ab 1952 arbeitete Richter mit seinem Münchner Bach-Chor und dem dazugehörigen Orchester am großen geistlichen Repertoire der Musikgeschichte - mit starker Betonung des Kantaten- und Oratorienwerks von Johann Sebastian Bach.
Dank eines Vertrags mit der Deutschen Grammophon hinterließ er ein immenses Erbe an Aufnahmen auch von Instrumentalwerken, als Organist, Cembalist und Dirigent.
Richter nimmt aus heutiger Sicht eine Position zwischen der schwergewichtigen "romantischen" Interpretationstradition barocker Musik und den Bestrebungen der sogenannten Originalklang-Pioniere ein. In den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren galten seine Aufnahmen als maßstabsetzend. Dank des allenthalben spürbaren Engagements des Künstlers und der Dringlichkeit seiner Wiedergaben hat sich die Wertschätzung durch das internationale Publikum nicht verloren.
Bachs geistliche Chorwerke in Karl Richters Aufnahmen. →
In Wien durften Musikfreunde lange Jahre sicher sein, daß Karl Richter in der Fastenzeit im Musikverein erscheinen würde, um eine der Bach-Passionen zu dirigieren. Er war, wie man heute weiß, ein Meister des Übergangs. Für heutige, am sogenannten Originalklang geschulte Ohren mag seine Klangästhetik als veraltet gelten. Doch das Wiederhören belehrt uns, daß der große Eindruck, den Richters Aufführungen einst machten, durchaus nachvollziehbar bleibt. In seinem Musizieren herrschte eine Dringlichkeit, die heute noch in Bann schlägt. Eine Bonus-CD, die dieser Neuveröffentlichung der großen geistlichen Chorwerke Bachs beiliegt, läßt uns Richter bei der Arbeit am "Weihnachtsoratorium" belauschen.
Das beeindruckt.
Man staunt, wie viel Zeit man sich Anfang der 1960er-Jahre für ein solches Vorhaben genommen hat-ein ganzer Aufnahmetag nur für den Eingangschor, ein weiterer für die Sinfonia pastorale, die die zweite Kantate einleitet. Und da feilt Richter an jedem Takt, jedem Beistrich, schattiert die Dynamik behutsam ab, sorgt sich um Achtelpausen, den rechten Zeitpunkt für den Einsatz eines Trillers. Da ist ein stilistisches Bewußtsein, vor allem aber ein fanatischer einheitsstiftender Wille am Werk, dessen Stimmigkeit über alle historisch-spieltechnische Zweifel hinweghilft.
Auch wer von der Ästhetik der späteren Originalklangszene angetan ist, wird sich der Folgerichtigkeit dieser Bach-Deutung nicht verschließen können. Sie ist in sich völlig kohärent, und das satte Klangideal hat doch auch für das heutige, an schlanken, kargen, ja kärglichen Klängen geschulte Ohr etwas unbestreitbar Barockes im ursprünglichen Sinn des Wortes.
Kyrie eleison. Doch fesselt etwa die H-Moll-Messe vom ersten, wie ein Aufschrei klingenden "Kyrie"-Ruf an: erratisch-hoffnungslos, ein Bild der Verzweiflung das erste Kyrie, wie eine Vision von einer andern Welt das "Christe"-Duett, aufbegehrend wie ein Befreiungsschlag das kurze zweite "Kyrie",danach ein Ausbruch in die strahlende D-Dur-Pracht des "Gloria",in dem sich Bachs kühner Kontrapunkt durch klare Stimmentrennung zum tönenden Raum entfaltet.
Hinzu kommen grandiose Solisten von Irmgard Seefrieds expressivem Sopran bis zur Engelsstimme der Gundula Janowitz-im Dialog mit Christa Ludwig und Fritz Wunderlich(!);hinzu kommen auch Videoaufnahmen der großen Vokalwerke aus Richters Spätzeit-und alle Audiofiles auch in HD-Auflösung auf einer eigenen Blu-ray.
(Deutsche Grammophon)