Willem Mengelberg

1871 - 1951

Pristine veröffentlichte zum 150. Geburtstag des Dirigenten seine legendäre „Telefunken-Aufnahmen“ aus den Dreißigerjahren und ließ sie restaurieren.

Mengelberg-Edition. Das Label Pristine erinnert zum 150. Geburtstag des holländischen Dirigenten an dessen Manche CD-Neuerscheinung lässt den Musikfreund sinnieren, wie viel Spontaneität, Individualität und Esprit die musikalische Interpretationskunst unserer Zeit doch verloren hat. Sofern sie den Gebrauch des Wortes Interpretation überhaupt noch rechtfertigt. Allen, die noch Lust haben, ihre Ohren zu akkommodieren und ein historisches Klangbild in Kauf zu nehmen, bietet die erste Ausgabe einer Edition des Labels Pristine Gelegenheit, sich mit dem Vermächtnis des holländischen Dirigenten Willem Mengelberg zu beschäftigen.

Der 150. Geburtstag des Mannes, der ein halbes Jahrhundert lang die Geschicke des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters bestimmte, gab den Ausschlag, seine „Telefunken“ aus den Dreißigerjahren wieder auszugraben. Wenn es jemanden gibt, der imstande ist, unter Heranziehung der besterhaltenen Schellack-Platten und der behutsamsten Filtermethoden ein für heutige Hörer nicht nur passables, sondern wirklich befriedigendes Hörerlebnis zu garantieren, dann ist das Mark Obert-Thorn.

Auch hier hat er wieder ganze Arbeit geleistet: Die erste Doppel-CD der geplanten Serie stellt zwei Beethoven-Symphonien und zwei Werke von Tschaikowsky in den Mittelpunkt. Im Falle Tschaikowskys stellt sich ja die Frage, warum eine Generation, die sich dem sogenannten Originalklang verschrieben hat, als Manierismus ablehnt, was für Interpreten, die noch zu Lebzeiten des Komponisten geboren wurden, als selbstverständlich galt. Das Portamento etwa, das mehr oder weniger „merkliche“ Schleifen von einem Melodieton zum andern. Ebenso die Anpassung des Tempos an den Charakter der melodischen Entwicklung. Viele rhetorische Kunstgriffe sind heute verpönt, obwohl sie für die Spätromantiker gängige Praxis waren.

Wenn dann Tschaikowsky nun im berühmten, vielfach filmmusiktechnisch missbrauchten Seitenthema seiner „Pathétique“ ausdrücklich noch „incalzando“ vorschreibt, erwärmt sich die Bewegung unter Willem Mengelbergs Händen jäh zur Siedehitze. Bewundernswert, wie das gesamte Orchester solche Freizügigkeiten eines Sinnes mitträgt, wie Begleitstimmen unter völlig frei schwebenden Linien sensibel mitgehen, ohne an rhythmischer Stetigkeit einzubüßen.

Mengelbergs Erzählmächtigkeit malt die buntesten, reichsten Bilder, aufregende Dramen voll überraschender Wendungen, bis zum letzten Takt unter Hochspannung. Nicht nur bei Tschaikowsky, sondern auch in Beethovens Fünfter, bei der man hört, warum schon die Zeitgenossen sie „Schicksalssymphonie“ genannt haben. Nicht minder aber auch bei der „Pastorale“, deren erster Satz ganz nach Beethovens Vorschrift das „Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“ hören lässt, so heiter und springlebendig, wie das keinem zweiten Dirigenten je geglückt sein dürfte.

Wer da meint, Mengelbergs Lust am Rubato, an der freie Modulation von Phrasen sei bei Wiener Klassik nicht am Platz, sollte überlegen, dass nicht nur Beethovens Schüler Czerny für das Spiel seines Lehrers freizügige Temposchwankungen dokumentierte, sondern dass sich sogar bei Mozart ein Brief findet, in dem er eine Besonderheit seines Klavierspiels beschreibt: Die rechte Hand agiert rhythmisch völlig frei, während die linke streng im Tempo bleibt. Wer da meint, das sei ein Widerspruch, höre, wie Mengelberg Beethovens „Szene am Bach“ musizieren lässt: So etwa könnte das vielleicht gemeint gewesen sein . . .

Musik- statt Zeitgeschichte

Bevor also zum Geburtstag eines bedeutenden Dirigenten wiederum nur ein Charakterbild aus zeithistorischen Argumenten gezeichnet wird (Mengelberg wurde 1945 suspendiert, weil er während der deutschen Besatzung weitergearbeitet hatte), könnte man zuhören. Apropos. Wer sich dann weiter mit ihm beschäftigen möchte: Mengelberg kann auch als Kronzeuge gegen die Verkitschung der Musik Gustav Mahlers dienen. Mit diesem Komponisten war er befreundet und fragte, legendär, anlässlich einer Probe mit den Philharmonikern nach dem Einmarsch der Deutschen in Wien: „Und das Schönste, Mahler, spielt ihr nicht mehr?“ Bei Pristine wird man auch diesbezüglich fündig: Neben Bruno Walter war Mengelberg vielleicht der einzige Dirigent, der fähig war, das „Adagietto“ aus Mahler Fünfter im richtigen Tempo spielen zu lassen.

      WILLEM MENGELBERG


↑DA CAPO