Kurt Masur

Gespräch, Frühjahr 1995







Kurt Masur: Musik gegen Verkehrsstau

Das New York Philharmonic hat mit Kurt Masur seit vier Jahren einen deutschen Chefdirigenten. Der ehemalige »Freiheitsheld« der »sanften Revolution von Leipzig« ist in der Neuen Welt glücklich.



Zwischen seinen Festwochenkonzerten in Wien - am Dienstag eröffneten die New Yorker unter seiner Stabführung auch das Musikfest des Wiener Sommers - erzählte Kurt Masur von seinen Erfahrungen. In den schweren Tagen der deutschen Wiedervereinigung hat er als Chef das Leipziger Gewandhausorchesters dank seiner plötzlichen Zivilcourage in die internationalen Schlagzeilen gehievt.

Die New Yorker, etwa so alt wie die Wiener Philharmoniker, also das längstdienende der großen amerikanischen Orchester, seien so viel oder so wenig »amerikanisch« wie alle Orchester der USA, meint er. »Auch die Berliner und die Wiener Philharmoniker unterscheiden sich erheblich voneinander«, gibt Masur im Gespräch zu Protokoll. »Ebensolche Differenzen können sie zwischen Cleveland, Chicago oder New York ausmachen.«

Das Faszinierende an seiner Arbeit sei die Erkenntnis, daß das Orchester aus allen Phasen seiner Arbeit »bereichert« hervorgegangen sei. Von Boulez bis Bernstein hätten die Chefdirigenten prägenden Einfluß gehabt. »Das Wesentliche ist«, so Masur, »die stilistische Sicherheit zu verstärken. Ein Beispiel: Wir hatten vor zwei Jahren Bernsteins Symphonische Tänze aus West Side Story im Programm und ich habe eine zweistündige Probe dafür angesetzt. Dann haben Musiker das Stück in einer halben Stunde so brillant durchgespielt, daß ich zu ihnen gesagt habe: Eigentlich könnt ihr jetzt nach Hause gehen, um Euch auszuruhen; und ich gehe und studiere die Partitur. Die haben diese Art von Musik einfach perfekt drauf.«

Coach für Romantik

Was kann also - bei solcher »Wechselwirkung« - Kurt Masur den New Yorker Philharmonikern geben? »Es geht, wie gesagt, um Stilfragen. Das Wissen um grundsätzliche Dinge des Klangs, der Spielweise. Wie spielt man zum Beispiel, wenn bei Bruckner gezogen in der Partitur steht? Wie klingt das, wenn Schumann semplice, also: ,einfach', ,simpel' verlangt? Ist das einfach langweilig - oder heißt es: Du sollst nichts hinzutun zu dem, was ohnehin für sich spricht?"

Masur als eine Art Coach für deutsche Romantik in New York, das scheint das Grundverständnis des Dirigenten zu sein. Er fühlt sich verstanden und gut aufgehoben. Anpassungsprobleme gab es gar nicht: »In New York ist das so, daß man integriert wird, sobald man sich spürbar zu New York bekennt. Da wird nicht gefragt, woher einer kommt.« Wer viel investiere, bekäme viel zurück, lautet für Masur die Lebensweisheit des Big Apple. Über allem herrscht der Geist einträchtiger Zusammenarbeit. Unter den Neuerungen, die seit Masurs Amtsantritt 1991 für Aufsehen gesorgt haben, erwähnt der Künstler vor allem die sogenannten Rush Hour Concerts. »Die finden am späten Nachmittag statt. Die Leute kommen unmittelbar nach dem Büro, bekommen - das ist im Preis inbegriffen - vorher ein paar Snacks und hören dann ohne Pause ein etwa 90 Minuten langes Programm. Wenn sie den Konzertsaal verlassen, ist der ärgste Verkehrsstau vorbei.« Der Erfolg war stupend: »Diese Konzerte sind immer ausverkauft und werden nicht zuletzt von Leuten genutzt, die so weit draußen wohnen, daß sie gar nicht mehr abends hereinkommen möchten.«

Daß die Karten etwa halb so viel kosten wie »normale Tickets« macht das Angebot zusätzlich attraktiv. Finanziell ermöglicht werden diese Dinge - wie übrigens auch sämtliche Auslandstourneen - von privaten Sponsoren, vor allem der Citibank, die ihre Zuwendungen so lange im voraus garantiert, daß langfristige Planungen (wie sie im internationalen Geschäft unumgänglich sind) möglich sind.




↑DA CAPO