Igor Markevitch

1912 - 1983

Igor Markevitch war der Sproß einer alten, schon im XVIII. Jahrhundert geadelten Kosaken-Familie. Zur Welt gekommen ist er in jenem Schloß bei Kiew, in dem schon Mikhail Glinka - übrigens ein entfernter Verwandter! - seine Oper Iwan Susanin komponiert hatte, ein Werk, von dem Markevitch eine exzellente Aufnahme machen sollte...

Studierte hat Markevitch nach der Flucht der Familie vor den revolutionären Umtrieben in die Schweiz zunächst bei Alfred Cortot. Der vermittelte ihn dann an die legendäre Nadja Boulanger nach Paris, aus deren Komponistenklasse er als durchaus origineller schöpferischer Musiker hervorging. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte Markevitch als Komponist einen schmalen, aber originellen Oeuvre-Katalog aufzuweisen. Immerhin bezeichnete Béla Bartók den Kollegen als einen der interessantesten Komponisten seiner Zeit. Vor allem die Werke, die Markevitch - der zum Schwiegersohn Vaslav Nijinskis wurde - in Zusammenarbeit mit Serge Diaghilevs Ballets russes und den von ihnen beeinflußten Choreographen schuf, schienen zukunftsweisend. Markevitch verwendet hier avancierte Techniken von der Polytonalität bis zu Vierteltönen und findet auch klanglich zu bemerkenswerten Ergebnissen. Bartók soll durch das Arrangement des Orchesterwerks L'Envol d'Icare für zwei Klavier und Schlagzeug zu seiner Sonate in der nämlichen Besetzung inspiriert worden sein. Tatsächlich hallt - etwa in der ersten Nummer von Markevitchs Werk - »Prélude« - der langsame Satz aus Bartóks Erstem Klavierkonzert nach, wie in der Aufnahme des Icare durch das Markevitch Ensemble Köln (auf dem Label Largo, 2012) gut nachzuhören ist.

Der Komponist als Dirigent

Doch die Zeitläufte stellten die Weichen anders als vorhergesehen: Während eines Arbeitsaufenthalts zwecks Vollendung eines Oratoriums über das Leben Lorenzo »Il Magnificos« überraschte Markevitch der Kriegseintritt der Italiener - er saß in Florenz fest und war als überzeugter Gegner der Politik Mussolinis bald Mitglied der Widerstandsbewegung.

Das machte ihn für die neue Stadtregierung zu einem geeigneten Kandidaten, der nach der Einnahme von Florenz durch die Allierten, 1944, federführend am Wiederaufbau des Musiklebens der Stadt mitwirken konnte.

Die kapellmeisterlichen Studien bei Hermann Scherchen hatten Markevitch genügend geprägt, daß er von Anbeginn ein sehr breites, die Moderne unbedingt mitberücksichtigendes Repertoire erarbeitete. In der Frühzeit des Festivals Maggio Musicale war Markevitch vor allem als Operndirigent aktiv. Doch war er auch in den Konzertsälen bald ein gesuchter Mann. Nicht zuletzt die Tatsache, daß die deutschen Dirigenten in großer Zahl mit Dirigierverbot belegt waren, verhalfen ihm in den Jahren bis 1947 zu vielen attraktiven Engagement, bei denen er freilich die in ihn gesetzten Erwartungen stets erfüllen konnte. Als Komponist hatte er einen analytischen Blick auf die Partituren und war durch keine komplizierten Notationsweisen zu irritieren. Sene Schlagtechnik war überdies exzellent, klar zu dechiffrieren und dank seiner phänomenalen Fähigkeit, die Gebärden beider Hände vollkommen unabhängig voneinander zu kontrollieren auch in heiklen Momenten unfehlbar. Legendär blieb die Tatsache, daß er auch komplexe Programme mit erstaunlich wenigen Proben realisieren konnte.

Das Orchestre Lamoureux

Ebenso legendär der Aufstieg des Pariser Orchestre Lamoureux, das Markevitch 1954 übernahm und dem er aus einem allseits beklagten, ruinösen Zustand innerhalb weniger Monate zu gediegenem Format verhalf. Mit diesem Ensemble gelangen Markevitch einige Meilensteine der Schallplattengeschichte, allen voran die (orchestral - leider nicht vokal) brillanteste Aufnahme von Hector Berlioz' Damnation de Faust.

Meilenstein Sacre du printemps

Neben dem Uraufführungsdirigenten Pierre Monteux war Markevitch auch der ideale Maestro für Igor Strawinskys damals noch als schlagtechnisch schwierigste Herausforderung geltenden Sacre du printemps. Ein Livemitschnitt aus London ist auf der CD-Serie der BBC greifbar - eine der kühnsten, trockensten, geschliffensten Wiedergaben dieses Werks.

Ein Klassiker wurde die Aufnahme von Strawinskys Geschichte vom Soldaten, bei der Jean Cocteau den Part des Rezitators übernahm. Einige Werke der Neuen Musik, die nicht allzu häurig im Schallplattenstudio realisiert wurden, verdanken ihm ihre definitiven Einspielungen, die sie als Meisterwerke erkennen lassen - allen voran Arthur Honeggers Fünfte Symphonie (»Di tre re«) und eines der Hauptwerke des Ungarn Zoltán Kodály, der Psalmus hungaricus, den Markevitch mit dem Russischen Staatsorchester und dem Tenor Róbert Ilosvalvy aufgenommen hat.

Auch aus dem klassisch-romantischen Repertoire erfuhren Raritäten glänzende Rehabilitierung durch diesen Dirigenten: Die Aufnahme von Luigi Cherubinis Requiem für Männerchor (DG) und jene der Caecilienmesse von Charles Gounod sind dank Markevitchs ebenso analytischem wie impulsivem Zugriff phänomenal. Kenner schätzen auch seine Wiedergabe von Tschaikowskys Pathétique als eine wohltuend unsentimentale, dabei doch ausdrucksstarke Lesart.

Von seinem analytischen Geist künden die akribischen Beethoven-Studien, die er betrieb und in einem bemerkenswerten Analyseband über die neun Symphonien niederlegte.

In zweiter Ehe war Markevitch mit einer Tochter der einflußreichen italienischen Familie Caetani verheiratet. Aus diesser Verbindung ging ein Sohn hervor, Oleg Caetani, der als Dirigent Karriere machen konnte.

Exodus aus Bayreuth

Viel diskutiert wurde Markevitchs plötzlicher Ausstieg aus der Produktion von Wagners Tannhäuser, 1954, bei den Bayreuther Festspielen. Ab der Generalprobe dirigierte der Bayreuth-erfahrene Joseph Keilberth - Markevitch war, angeblich auf Grund von Wieland Wagners choreographischer Führung des Chors, der für den Dirigenten passagenweise nicht sichtbar war - mit der akustischen Koordination zwischen Büne und (verdecktem) Orchestergraben nicht zurande gekommen.

↑DA CAPO