James Levines Rekord

Der langsamste »Ring« der Bayreuther Festspielgeschichte

6. August 1994
James Levine hat es geschafft. Er ist der Langsamste. Der legendäre »Schlepper von Bayreuth«, Hans Knappertsbusch, ist entthront.

James Levine, verkünden die Agenturen, hat den Adagio-Rekord des deutschen Dirigenten um mehr als eine Viertelstunde überboten. Der von allen Wagnerianern geliebte »Kna« zelebrierte Anfang der fünfziger Jahre den bisher längsten »Ring des Nibelungen« im Bayreuther Festspielhaus. Vier Jahrzehnte später durfte der amerikanische Tausendsassa im Orchester-Nibelheim am »grünen Hügel« ans Werk. Nicht erst seit diese Rekord-Schlagzeilen erschienen sind, habe ich ihn in Verdacht, er hat es darauf angelegt.

Ob er jetzt ins Guinness-Buch der Rekorde Eingang findet, bleibt noch abzuwarten. Daß einem an amerikanischen PR-Methoden geschulten Künstler daran gelegen sein könnte, auch mit unkünstlerischen Nebeneffekten seiner Arbeit in die Medien zu kommen, liegt aber auf der Hand. Genährt wird die Vermutung des «absichtlichen Verschleppens« auch durch Erfahrungen mit »Parsifal«.

»Parsifal«-Fragen

Den hat Levine jahrelang in Bayreuth betreut und ist darüber von Jahr zu Jahr schläfriger geworden. Absichtsvoll? Die Wagner-Stadt provoziert solche Lüste geradezu. Die zum Museum umgestaltete Wagner-Villa »Wahnfried« birgt nämlich auch akribisch geführte Listen, in denen von Akt zu Akt verzeichnet ist, wer in welcher Aufführung wieviel Zeit in Anspruch genommen hat. Und auf diesen Listen rangierte Knappertsbusch bisher in Sachen »Ring« an der Spitze. Diesen Gegner hat der nur privat flotte »Jimmy« nun in seiner ersten Runde besiegt. Für den »Parsifal« sieht er sich freilich nach wie vor einer uneinnehmbaren Festung gegenüber: Arturo Toscanini. Der zornige Italiener hat bei seinen Festspiel-Dirigaten vor sechzig Jahren Wagners »reinen Toren« in den absolut behäbigsten Gralsritter aller Zeiten verwandelt.

Selbst «Kna«, um langen Atem nie verlegen, hat diesen Rekord nie zu egalisieren vermocht. Wie breit die Möglichkeiten auf diesem Sektor sind, verrät ein simpler Vergleich: Knappertsbuschs »Parsifal« des Jahres 1951 dauerte ungefähr um eine halbe Stunde länger als seine letzte Aufführung derselben Oper, Anfang der sechziger Jahre.

Das können wir auf Schallplatten nachhören. Wie Toscanini es geschafft hat, noch einmal eine gute Viertelstunde zuzulegen, ist nicht überliefert. Es verwundert nur, wenn man weiß, daß dieser Maestro von vielen Werken des Standardrepertoires die bis heute nicht unterbotenen, rasantesten Aufnahmen vorgelegt hat und daher eher für Geschwindigkeitsrekorde am anderen Ende der nach oben und unten hin offenen Temposkala zu sorgen wußte.

»Raser« Richard Strauss

Da sind wir aber mitten in den Mysterien der Interpretationsgeschichte, die auch wundersame Verwandlungen wie jene Otto Klemperers kennen, der vom Formel-eins-Maestro zur dirigierenden Schildkröte mutierte. Ohne dabei an Intensität zu verlieren: Zwischen Largo und Prestissimo ist nämlich alles relativ.

So galt Richard Strauss als Raser, Knappertsbusch, wie schon gesagt, als »Schwerblut«. Trotzdem hat, wie unser aller Opernführer Marcel Prawy einmal zu Protokoll gab, letzterer eines der raschesten und Strauss das vielleicht langsamste »Meistersinger«-Vorspiel aller Zeiten auf Schallplatte gebannt.

Wer bei alledem "recht hat", wer irrt, ist nicht festzustellen. Nur daß »Jimmy« Levine endlich seinen Rekord hat. Mit dem schläft er jetzt gewiß beruhigter ein; möglicherweise sogar während der Götterdämmerung«.

↑DA CAPO