Sergej Kussewitsky

(Сергей Александрович Кусевицкий)
1874 - 1951

Dirigent und Kontrabaß-Virtuose - einer der großen Orchestererzieher des XX. Jahrhunderts

Arturo Toscanini soll einst kurz nach Beginn der Radioübertragung einer Symphonie gebannt vor dem Apparat sitzen geblieben sein und der Interpretation bis zum Ende des vierten Satzes gelauscht haben, nur um zu hören, wer es da wagte, das Werk - seiner Meinung nach - demaßen zu verunstalten. Als die Ansage verkündete, es hätte das Boston Symphony Orchestra unter Sergej Kussewitsky gespielt, soll Toscanini mit einem angewiderten »der Bassist« abgeschaltet haben.

Der Kontrabassist

Tatsächlich haßte Toscanini, damals Chef des NBC Orchestra, seinen Bostoner Konkurrenten abgrundtief. Und tatsächlich war Kussewitsky Bassist, genauer: einer der wenigen reisenden Kontrabaß-Virtuosen, die es zu internationalem Ruhm gebracht haben. Von Kussewitsky stammt die erste kommerzielle Aufnahme von Virtuosenstücken für Kontrabaß, darunter einige dankbare Eigenkompositionen, die sich bei Kontrabassisten, die nicht eben gesegnet mit Original-Repertoire sind, bis heute großer Beliebtheit erfreuen.

Die Möglichkeit, als Meister eines raren Solo-Instruments zu reüssieren, gab Kussewitsky dank der Kuriosität die Möglichkeit, nach der russischen Revolution seinem Heimatland, wo er sein gesamtes Vermögen verloren hatte, zu entfliehen.

Der Dirigent in Rußland

Tatsächlich hatte Sergej schon als Kind beschlossen, Dirigent werden zu wollen. Doch war an der Akademie zunächst lediglich eine Ausbildungsstelle an der Kontrabaß-Klasse frei - so leitete er seine musikalischen Qualitäten zunächst aufs Studium des unhandlichen Streichinstrument um und erreichte darin allgemein anerkannt die höchste Meisterschaft. Und zwar statt der vorgesehenen Studienzeit von fünf Jahren in - fünf Monaten!

Den Kontrabaß-Virtuosen, der zunächst als Orchestermusiker im Moskauer Bolschoi-Theater begann, bestaunte man nicht nur in Rußland. Arthur Nikisch wurde auf Kussewitzky aufmerksam und engagierte ihn nach Leipzig, wo er Saint-Saens' Erstes Cellokonzert auf dem Kontrabaß spielte - wer allein den Anfang dieses Werks mit seinen rasanten Sechzehntel-Girlanden im Ohr hat, erkennt, welche Behendigkeit Kussewitzky auf seinem Instrument erreicht haben mußte. Daß er als Dirigent vor allem wußte, was er von Streichern verlangen konnte, versteht sich. Erste Kapellmeister-Engagements führten in nach London und Berlin.

Orchester als Hochzeitsgeschenk

Doc erst die Hochzeit mit der Tochter eines reichen Teehändlers ermöglichte es ihm, den Traum vom Dirigenten-Beruf vollständig zu realisieren. Angeblich war es seine Bedingung, als »Hochzeitsgeschenk« ein Orchester von mehr als 80 Mitwirkenden zu erhalten. Mit diesem Ensemble, das unter seiner Führung rasch blendenden technischen Status erreichte, reiste Kussewitzsky durch Rußland. Auf Booten schiffte man sich auf der Wolga ein, um die verschiedenen Städte zu bereisen.

Der Interpret

Als Dirigent kultivierte Kussewitzky manche Eigensinnigkeiten - etwa in Strauss' Also sprach Zarathustra den Sechzehntelauftakt mehr als doppelt so lang spiele zu lassen als notiert - ärgerten Kollegen und manche Rezensenten. Dem Publikum war es vollkommen gleichgültig. Es schätzte - wie wohl auch die Komponisten, die ihre Werke von Kusswitzky dirigiert hören konnten - die enorme orchestrale Disziplin und die Lust am leuchtend schönen Klang, die er zu anzustacheln wußte, ohne die Strukturen der Musik zu vernebeln, die er mittels ausgefeilter dynamischer Registrierung deutlich werden ließ.

Außerdem war Kussewitzky ein Sinn für Dramaturgie eigen. Seine Interpretationen sind stets glühend, beredt und intensiv gesteigert, nervös in den Details, zielgerichtet in der großformalen Linienführung. Ein kurzes Beispiel aus Strauss' Zarathustra kann die durchwegs gehaltene Spannung und die fiebrig-flexible Gestaltung von Tempo und Phrasierung deutlich machen.

Die offenkundigen erzieherischen Qualitäten machten Kussewitzky im amerikanischen Exil zu einem der bedeutendsten Orchester-Leiter - an der Seite Stokowski, Reiner, Szell und Ormandy war er für den Aufstieg der US-Orchester zu internationaler Vormachtstellung, herbeigeführt von einer russisch-ungarischen Dirigenten-Phalanx mit verantwortlich.

Boston Symphony

Ab 1924 fungierte er als Chefdirigent des Boston Symphony Orchestra und machte mit diesem Ensemble - als es sich nach anfänglichen Protesten an seine unorthodoxe Schlagtechnik gewöhnt hatte - bereits in der Schellack-Ära unzählige Aufnamen. Der »Akkommodations-Prozeß« führte dazu, daß die Bostoner Musiker lernten, die dramaturgischen Intentionen ihres Dirigenten zu dechiffrieren, zur Koordination aber auch gewärtig waren, stets genau aufeinander zu hören und neben dem Dirigenten auch auf Konzertmeister und Stimmführer zu achten. Aus der Not wurde eine Tugend. Es hat seinen Grund, warum mit wenigen Ausnahmen (einige Wiener Klassiker und Sibelius' Siebente in London) sämtliche erhaltenen Aufnahmen dieses Dirigenten mit »seinem«, vollkommen auf ihn eingeschworenen Orchester entstanden sind.

Ein guter Begleiter für Solisten wurde Kussewitzky allerdings nie. (Das mag ein Grund für die Verachtung Toscaninis gewesen sein.) Grandiose Aufnahmen wie jene des Sibelius-Violinkonzerts mit Jascha Heifetz mögen als Ausnahmen zur Bestätigung der Regel dienen.

Kampf für Novitäten

Jedenfalls setzte Kussewitzky sein in Rußland - als Dirigent wie als Musikverleger - begonnenes Engagement für die zeitgenössische Musik fort. Schon vor seiner Ausreise in die USA hatte er in Paris mit Aufführungen Neuer Musik Aufsehen erregt. In Boston beauftragte er führende zeitgenössische mit neuen Werken. Den Höhepunkt dieser Zusammenarbeit mit den schöpferischen Kräften seiner Zeit erreichte Kussewitzky wohl mit der Uraufführung von Béla Bartóks Konzert für Orchester, das für den Komponisten wie für Orchester und Dirigent zu einem Triumph wurde - übrigens läßt der Livemitschnitt der Premiere noch kürzeren Schluß des Finales hören, den Bartók für weitere Aufführungen dann wirkungsvoll verlängert hat.

Aufnahmen

Eine der wenigen Aufnahmen, die Kussewitsky mit einem anderem als dem Boston Symphony Orchestra gemacht hat, gehört auf die Allzeit-Bestenliste, denn es handelt sich um die allererste Aufnahme, die je von Jean Sibelius' Siebenter Symphonie gemacht wurde. Und sie ist bis heute hörenswert, dank ihrer Klarheit und völlig unverschleierten Texttreue, eher karg als koloristisch in der Klanggebung.

Der Livemitschnitt der Uraufführung von Bartóks Konzert für Orchester gehört als Dokument der Geburtsstunde eines der bis heute meistgespielten Werke der musikalischen Moderne ebenfalls archiviert; allerdings ist die eher gewöhnungsbedürfige technische Qualität der Aufnahme (1944) zu bedenken - es geht hier eher um den dokumentarischen Wert.

Bei den Sibelius-Symphonien Nr. 2 und 5 profitiert der Hörer schon von der glänzenden amerikanischen Technologie jener Ära: Diese Einspielungen dokumentieren auch die Intensität des Spiels, die Boston Symphony unter Kussewitzky erreichen konnten. Die dramaturgischen Zuspitzungen erreichen oft Siedezitze. (Naxos)

Im übrigen haben es Sammler schwer: Umschnitte der zum Teil grandiosen Schellack-Platten geraten in der Regel technisch unbefriedigend. Zumindest in zwei Fällen sollte man auf Suche gehen - etliche Streaming Dienste bieten (höchst unterschiedlich geartete) Digitalisierungen an: Die wahrscheinlich eloquenteste Aufnahme von Prokofefieffs frecher Symphonie classique stammt ebenso von Kussewitsky wie eine der brillantesten, durchsichtigsten und dabei detailverliebt erzählfreudigsten Wiedergaben von Strauss' Till Eulenspiegels lustige Streiche. Angehörs solcher Fabulierlust nimmt der Musikfreund wohl technische Abstriche hie und da in Kauf.  . .




DA CAPO



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