Erich Kleiber
1890 - 1956
Erich Kleiber kam in Wien zur Welt - Musik lag in der Luft in der Kettenbrückengasse, im Haus schräg vis a vis war 1828 Franz Schubert gestorben. Erich Kleiber hatte aber seine Geburtsstadt bald verlassen und seine Studien in Prag absolviert. Eine Prager Aufführung von Gustav Mahler damals völlig neuer Sechsten Symphonie stand am Beginn seiner fanatischen Begeisterung für Musik und der Entscheidung, Musiker werden zu wollen. Die Karriere des Dirigenten begann mit Hilfsdiensten hinter der Szene eines Theaters, wo Kleiber die Schauspielmusik dirigierte.
Sein Handwerk lernte Erich Kleiber nicht nur als gesuchter Korrepetitor, der sich als feinfühliger Begleiter der Sänger entpuppte, sondern auch als Komponist: In jungen Jahren schrieb er Kammermusik und Orchesterwerke, darunter auch Klavier- und Violinkonzerte.
Doch die Kapellmeistertätigkeit absorbierte ihn bald: Mit einer Aufführung von Offenbachs Die schöne Helena debütierte er 1912 am Dirigentenpult in Darmstadt, von 1919 an wurde er Chefdirigent in den Häusern von Barmen-Elberfeld, Düsseldorf und Mannheim, von wo er 1923 an die Berliner Staatsoper »unter den Linden« wechselte.
Zu diesem Zeitpunkt war Kleiber bereits anerkanntermaßen einer der versiertesten Opernkapellmeister seiner Zeit und ein kühn-subjektiver Gestalter dazu.
Legendäre Aufführungen von jüngeren und jüngsten Werken wiesen ihn als unerschrockenen Vorkämpfer für die Moderne aus - und zwar in allen ihren Ausprägungen von spätromantischer Musik wie jener des Wiener Opernmeisters Julius Bittner (Kleiber brachte dessen Rosengärtlein 1922/23 in Mannheim heraus und dirigierte in Berlin später auch dessen Höllisch Gold und die Erste Symphonie) bis hin zu experimenteller Avantgarde wie Arnold Schönbergs Pierrot Lunaire, den er in Düsseldorf ebenso einstudierte wie Gustav Mahlers damals noch kaum bekanntes Lied von der Erde.
Kleibers Ära an der Lindenoper ging als eine der legendären Epochen in der Geschichte dieses Hauses in die Annalen ein. Kleiber brachte viel beachtet Werke von Leoš Janáček (Jenufa) oder Darius Milhaud (Christophe Colomb) heraus, kaum Bekanntes von Mozart, vor allem aber Alban Bergs Wozzeck und - in Vorbereitung zur geplanten Uraufführung des dann wegen des frühen Todes des Komponisten unvollendet gebliebenen Werks - die eigens für diesen Zweck arrangierte Suite aus der Oper Lulu. Das war ein mutiger Akt, denn man schrieb das Jahr 1934, die Nationalsozialisten waren längst an der Macht und gegen alles Zeitgenössische generell und gegen Kleiber und seine Repertoirepolitik im besonderen aufgebracht: Die Uraufführung der Lulu-Suite geriet zu einem Triumph, die aber von nationalsozialistischen Trupps gestört wurde: Als ein Mann in gespielter Empörung über die Novität »Heil Mozart« in den Saal rief, hielt Kleiber die Partitur in die Höhe und entgegnete seelenruhig: »Sie irren sich, das Werk ist von Alban Berg!«
Mit dem viel zitierten, beinahe zur selben Zeit und ebenfalls in Berlin eskalierten »Fall Hindemith«, den Wilhelm Furtwängler mit einer Aufführung der einer weiteren zeitgenössischen Opern-Suite, der Symphonie Mathis der Maler in der Philharmonie angezettelt hatte, war diese Uraufführung unter Kleibers Leitung die Initialzündung zur völligen Abriegelung des deutschen Musikbetriebs gegen jegliche von der Führung als »entartet« klassifizierte Kunst.
Kleiber zog - anders als Furtwängler - die Konsequenzen und verließ Deutschland. Ab 1939 lebte er mit seiner Familie, darunter dem damals sechsjährigen Sohn Carlos, in Buenos Aires. Am Teatro Colon prägte er auch das dortige Musikleben.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam es nicht zu einer glücklichen Rückkehr nach Europa. Zwar bot man Kleiber 1951 erneut die Chef-Position an der Lindenoper an, doch diese lag nun im kommunistisch dominierten Osten der Stadt. Kleiber resignierte 1955 aufs neue. Seine Verbindung zu den Wiener Philharmonikern, die er nach etlichen Vorkriegs-Erfolgen wieder aufgenommen hatte, entpuppte sich nicht als konsistent genug, um die von ihm ersehnte Bestellung zum Direktor des wieder aufgebauten Opernhauses an der Ringstraße zu ermöglichen. Obwohl die beiden großen Opern-Aufnahmen, die Kleiber mit dem Orchester für Decca im Studio realisierte, ihn für dieses Amt zu prädestinieren schienen: Sowohl Mozarts Figaro als auch Richard Strauss' Rosenkavalier gelten bis heute als kaum egalisierte interpretatorische Glanzleistungen. Man sagte diesem Dirigenten nach, daß er stets sicherzustellen trachtete, daß auch die Orchestermusiker das Libretto einer Oper genau kannten!
Kleiber war darüberhinaus auch ein feinsinniger Dirigent für Musik der Wiener Strauß-Dynastie. Das Sensorium dafür hat er offenbar auf seinen Sohn Carlos vererbt, dessen Dirigier-Ambitionen er zunächst skeptisch sah. Von Carlos Kleiber wiederum heißt es, daß er sein Leben lang den Schatten seines Vaters als übermächtig empfunden haben soll.