Daniel Barenboim: Dirigieren ist Gesund

Der Dirigent als Gast im "Musiksalon" im Jänner 2005


→über die Selbstreinigungskraft von großer Musik

→Herz und Verstand beim Musizieren

→Das West-Eastern Divan Orchester und die Politik



Herbert von Karajan hat einmal in einem besonders emotionalen Moment von Verdis "Otello" ausgerufen: "Ah, das tut gut!" Tut Dirigieren wirklich gut?
Daniel Barenboim: Dirigieren muss gesund sein. Nicht umsonst sind wohl so viele Kollegen so alt geworden, was vielleicht daran liegt, dass es beim Dirigieren zur aktiven Vereinigung der physischen und geistigen Kapazitäten des Menschen kommt. Und dass Musik immer neu ist! Ich denke gern an Artur Rubinstein, der schon Ende achtzig war und immer noch die As-Dur-Polonaise von Chopin gespielt hat. Es ist ihm nicht langweilig geworden!

Wie aufregend ist es für Sie zum Beispiel, wenn Sie mit den Wiener Philharmonikern - wie für dieses Wochenende - eine Beethoven-Symphonie erarbeiten?
Natürlich entdecke ich die "Pastorale" nicht neu, wenn ich sie zum hundertsten Mal einstudiere. Aber es gibt nichts Statisches in der Musik. Es mag eine Kleinigkeit sein, die man bisher nicht so gesehen hat, die einen aber zwingt, vieles neu zu denken: Wie kommt es dazu, was passiert davor, was hat Beethoven dazu gebracht, das so zu schreiben - und was hat es für Auswirkungen!

Sie haben einmal gesagt, das intelligenteste Organ des Menschen sei das Ohr.
Ja, denn es hat auch ein Gedächtnis. Ich sage allen Studenten: Es gibt keine Wiederholungen in der Musik. Wenn sich etwas wiederholt, dann kommt nicht einfach das Gleiche noch einmal. Dann ist es wie ein Kommentar. Wenn Beethoven ein Motiv drei- oder viermal wiederholt, erwartet das Ohr als intelligentes Organ, dass es so weitergeht, dass das Motiv ein fünftes Mal kommt - und dann kommt die Kunst: Beethoven setzt anders fort. Das ist Musik!

Eine Quelle fortwährender Überraschungen?
Musik ist ein ständiger Dialog. Auch wenn es manchmal ein Dialog eines Musikers mit sich selbst zu sein scheint, er ist nie allein. Er hat nie die Möglichkeit, etwas zu sagen, ohne dass diese Aussage kommentiert würde. Wenn zwei Menschen miteinander sprechen, dann sagt der eine etwas, der andere hört zu und entgegnet dann etwas. In der Musik machen wir das gleichzeitig!

Lernt man daraus etwas für das Leben?
Alles, was wir denken, enthält diesen subversiven Widerstand. Oft, zum Beispiel, wenn man etwas schreibt, denkt man doch gleichzeitig, dass man zum selben Thema auch etwas anderes schreiben könnte. Ich glaube nicht an Aussagen wie jene von Politikern wie George Bush, die sagen: Wenn du nicht mit uns bist, dann bist du gegen uns. Das ist eine Beleidigung der menschlichen Intelligenz. Ich kann doch sagen: Ich bin mit dir. Aber in manchen Fragen bin ich anderer Ansicht!

Und die Beziehung Musik-Interpret?
Jedes Stück hat einen Verteidigungsmechanismus. Wenn Sie in Wagner-Opern eine Sequenz zu langsam anfangen, dann haben nicht nur die Sänger keinen Atem, die Musik verliert ihren Fluss. Spielen Sie aber zu schnell, dann verliert sie ihre Größe. Das Gleiche gilt für die Dynamik und die Artikulation, die musikalischen Betonungen. Wenn man über das Erlaubte hinausgeht, dann setzt dieser Verteidigungsmechanismus ein - das Stück ist tot. Daraus lernt man den Unterschied zwischen Freiheit und Anarchie.

Wie steht es um den Gegensatz von Emotion und Analyse in der Musik, wie emotional darf der Interpret sein?
Man sagt gern: Ein Musiker brennt vor Leidenschaft. Dazu muss man allerdings auch sagen: Wenn Sie den ersten Akt der "Götterdämmerung" dirigieren, dann können Sie nicht ununterbrochen brennen. Der Akt dauert zwei Stunden. Da sind Sie verbrannt! Im Übrigen kann auch Kälte ein Ausdrucksmittel sein. Ich kann mich gut erinnern, als ich das erste Mal die Fünfte Tschaikowsky von Jewgeni Mrawinsky dirigiert hörte. Das war ein Schock für mich. Er hatte die Musik sozusagen ausgezogen, entkleidet von jeglicher Sentimentalität und was sie sonst als Ballast noch mitführt. Und doch war es alles andere als unemotionell. Es gab Passagen, die wirklich gebrannt haben. Dann aber gab es wieder Passagen, in denen ich dachte, ich brauche einen Mantel!

Wie behält der Dirigent in diesem emotionalen Wechselbad die Kontrolle?
Er muss zunächst einmal jeweils die Frage beantworten: Gehe ich beim Dirigieren auf einen Musiker zu, der gerade ein Solo spielt, wende ich mich den zweiten Geigen zu, die eine Nebenfigur spielen, oder bringe ich die alle dazu, in diesem Moment auf mich zuzugehen? Umgekehrt: Spiele ich für die Dame und den Herrn, die in der 27. Reihe sitzen? Oder hole ich die zu mir auf die Bühne? Ein gutes Konzert ist eines, in dem beides passiert, in dem ich bei einer Stelle dem Hörer suggeriere: Hör mal, das geht so! Und bei einer anderen: Wenn du wirklich dem Geheimnis dieser Musik auf die Spur kommen möchtest, dann musst du mit deinem Ohr zu mir auf die Bühne kommen.

Zwangsläufige Frage: Wie macht man das?
Man spricht im Klavier- oder Geigen-Unterricht gern davon, dass ein Ton, ein Klang projiziert werden muss. Was heißt das? Für mich heißt das, einen innerlichen Ausdruck zu haben, dem man dann die Möglichkeit geben muss, nach außen zu kommen. Dazu muss ich eine Beziehung zu dem Raum entwickeln, in dem ich spiele - im Musikverein oder in einem Sportstadion herrschen ja ganz andere Bedingungen. Dann muss ein Dirigent wissen, dass er manchmal dem Orchester einen Rahmen geben muss, in dem die Musiker malen können. Das andere Mal muss er selber malen. Es gibt Musiker, die Solo-Stellen besser spielen, wenn man sie allein lässt. Andere brauchen das Gefühl, dass man mit ihnen mitgeht.

Das widerspricht ein wenig dem diktatorischen Bild, das viele vom Dirigentenberuf haben.
Die Leute denken, dirigieren hätte etwas mit Macht zu tun. Das stimmt nicht. Der Dirigent kann dem Orchester zeigen, in welcher Geschwindigkeit gespielt werden soll. Aber das ist keine Kunst, das kann jeder. Wenn die Musiker sich nicht daran halten, fällt alles auseinander. Wichtig ist vielmehr, ob die Musiker so spielen können - vor allem aber: ob sie so spielen wollen, wie der Dirigent anzeigt! Die Kunst ist: Die Musiker müssen wissen, wie der Dirigent denkt. Und umgekehrt. In dem Moment macht man miteinander Musik. Ich war ein ganz junger Dirigent, als ich mit dem großen Artur Rubinstein musizieren durfte. Dumm, wie ich war, habe ich damals gesagt: "Ich werde mein Bestes tun, Ihnen zu folgen." Worauf er zu mir gesagt hat: "Wenn du mir folgst, bist du hinterher. Du musst mit mir sein!"

Ihr spektakulärstes Projekt ist gewiss das West Eastern Divan Orchester, in dem Sie junge Musiker aus dem Nahen Osten vereinigen - eine politische Großtat, die nicht überall gern gesehen wird.
Ich bin voller Bewunderung für diese jungen Musiker, denn weder in Israel noch in der arabischen Welt wird das von der Gesellschaft positiv gesehen. Es funktioniert auch nur, weil wir in der Nahost-Frage nicht eine bestimmte politische Linie haben. Das Einzige, was wir politisch sagen: Wir glauben nicht, dass es eine militärische Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt gibt. Und dass die Schicksale unserer beiden Völker untrennbar sind. Punkt. Damit ist es geradezu eine Pflicht für die jungen Musiker, bei den Meetings nach dem Abendessen zu sagen, was sie denken, zu versuchen, die Logik dessen, was der andere sagt, zu verstehen. Auch wenn man nicht einverstanden ist!

Was zwangsläufig zu Spannungen führt?
Als der Gaza-Krieg begann, habe ich am ersten Probentag gesagt: Ich kann mir gut vorstellen, dass es nicht leicht für den einen oder anderen ist, jetzt mit den anderen zu spielen. Es ist Krieg. Es werden schreckliche Dinge passieren. Ich verstehe, wenn jemand nicht mitmachen will. Es wird keine Konsequenzen haben, aber überlegt es euch bitte, bevor wir auf die Reise gehen. Daraufhin wurde auf der Orchesterversammlung ganz offen disktuiert - und alle sind geblieben. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist!

Eigentlich ein unglaubliches politisches Signal - wird es zur Kenntnis genommen?
Unlängst waren wir in Katar - und der Sender Al-Jazeera hat über das Orchester berichtet. Auf die Frage, ob ein Orchester die Welt verändern könne, habe ich gesagt: natürlich nicht. Aber an dem Tag, an dem sich die Welt in Nahost verändern wird, werden sie so ein Orchester haben wollen. Es ist Jahrzehnte voraus, weil die Musiker menschliche Erfahrung miteinander gemacht haben.




↑DA CAPO