Heinrich Schiff

Wien, Februar 1996

Der Wagemut des Cellisten

Heinrich Schiff musiziert im Großen Musikvereinssaal sämtliche Solosuiten von Johann Sebastian Bach.

Ein einsamer Mann mit seinem Cello in einem »symphonischen« Raum. Vor etwa zehn Jahren spielte Schiff Bach im Brahmssaal - ohne viel Rücksicht auf klangliche Verluste. Die staunend lauschenden Musikfreunde waren fasziniert, wie modern, wie hypernervös man Bachs Musik in unsere Zeiten transferieren kann.

Heute spielt Schiff eleganter, schöner, auch: glatter in der Tongebung. Vielleicht tragen aber die Dimensionen des Goldenen Saales nicht eben zur Förderung der Konzentration auf sensibel modellierte melodische Einzelereignisse bei. Der Hörer ist jedenfalls mehr als bei intimer »Direktschaltung« gefordert, sich selbst ganz einzubringen, den Intentionen des Interpreten zu folgen, zu entschlüsseln, wie dieser wagemutige Heinrich Schiff, alleingelassen mit den unerhörten Ansprüchen jedes Bachschen Einzeltones, die Einzelbausteine zu Phrasen, die Phrasen zu architektonischen Gesamtbauwerken bindet.

Er demonstrierte diesmal artistische Brillanz, sicherte noch dem kleinsten Detail farbiges Eigenleben, jonglierte mit den Elementen der oft vielfach verschränkten musikalischen »Schachtelsätze«, indem er jedes für sich in raffinierter Tongebung entfaltete. Nicht immer gelingt es dem Hörer bei so viel klanglichem Raffinement, den Faden im rechten Moment wieder aufzunehmen. Es ist nicht auszumachen, wer hin und wieder zu viel hasardiert: Der Cellist, wenn er noch ein Kunststück draufsetzt? Der Hörer, wenn er sich, davon angestachelt, zu weit von der eigentlichen Substanz »hinwegträumt«?

Jubel für den Gladiator, jedenfalls. Anfang März folgt der zweite Teil seiner Expedition.

Daß es keine Mühe kostet, damit außer Abonnement den Großen Saal zu füllen, darf sich Schiff als Lob anrechnen. sin




↑DA CAPO