Die Antilope

Johannes Maria Staud - nach einem Text von Durs Grünbein

Uraufführung, Neue Oper Wien (2017)

Neue Oper, keine Ahnung

Die Grundidee ist originell. Während einer Firmenfeier springt ein Außenseiter namens Victor aus dem Fenster. Dem Sturz aus dem 13. Stock - Traum oder Wirklichkeit? - folgt eine Odyssee zwischen Skylla und Charybdis unserer kommunikationsgestörten Gesellschaft - Traum oder Wirklichkeit? Ein junges Pärchen, keine Ahnung, nach dem Sex irgendwie, unterhält sich, im formlos knappen Phrasen-Rap unserer Zeit. Keine Ahnung. Victor brabbelt sinnlose Silben, Antilopennamen, sagt das Programmheft.

Ein Trio aus menschenverachtend-zynischen Ärzten mit Pappnasen konstatiert: "Afrikanische Depression". Der Mann "ist fast hin", wird auch aus einem Cafe verjagt, in dem beziehungsgestörte Typen aller Arten herumsitzen, eine Frau darunter, die "zur Massage" geht und ihren kleinen Buben bei einer Tasse Schokolade zurücklässt.

Kunst beschert Wut und Erlösung

Aber die Kunst kann uns retten, suggeriert Librettist Durs Grünbein: Im nächtlichen Park wird Victor auf eine moderne Skulptur aufmerksam, deren abstrakte Formgebung ihn zunächst - wieder auf Deutsch - zu einer Schimpftirade gegen die zeitgenössische Kunst hinreißt, die ihn dann aber in den Schlaf singt - in seiner "Antilopensprache".

Ein letztes Bild, in Dominique Menthas behutsam zurückhaltender Regie halb Zoo, halb Gefängnis: Dort findet sich Victor zwischen Tieren und seinen Bürokollegen, die ihn in die Partyszenerie des Beginns zurückholen. Johannes Maria Stauds Musik wiederholt sich. Endet der Albtraum nie?

Walter Kobera führt das Amadeus Ensemble sicher durch die Partitur, die ansatzlos zwischen den heute handelsüblichen, konturlos-ununterscheidbaren Geräusch- Klangcollagen und konsistenten Einsprengseln modischer Unterhaltungstänze hin und her wechselt. Ein drittes Formelement steuert der Wiener Kammerchor bei, der sich aus der mit Tiermasken kostümierten Festgesellschaft in eine Art griechischen Tragödien-Chor verwandelt, um heikle, weil scharf dissonierende Kommentare zum Geschehen abzugeben.

Die Sänger halten sich da bewundernswert sicher. Ihr staunenerregender Präzisionsgrad lässt sich spätestens dann erahnen, wenn nach dem ersten, tatsächlich a cappella absolvierten Intermezzo ein Akkordeon und zuletzt etliche Orchesterstimmen hinzutreten.

Die Solisten haben es nicht leicht. Zwischen Sprechgesang und - oft gegen den Sprachrhythmus getakteten - Melismen bieten sich nur Victor (Wolfgang Resch) und der singenden Skulptur Elisabeth Breuers wirklich dankbare Gelegenheiten, vokale Fertigkeiten unter Beweis zu stellen. Die beiden machen glücklich Gebrauch davon. Vor allem Breuers unerschrockene Soprankoloraturen wirken belebend im 80-minütigen, insgesamt zähflüssigen Klanggeraune, das den Leidensstationen doch recht wenig Konturen verleiht. Immerhin ließe sich angesichts der Textvorlage ja ein wenig Zeitkritik üben. Parodistisch, karikierend, satirisch sollte diese "Antilope" ja vielleicht zu einer Art "Mahagonny"-Songspiel für das 21. Jahrhundert werden.

Dafür fehlt ihr aber mindestens ein "Moon of Alabama". Und zur Aufnahme in den fiktiven Kanon wirkungsvoller jüngerer Musiktheaterversuche gebricht es dem Stück an stilistisch-formaler Sicherheit.

Ein Vergleich, der mir anlässlich dieser österreichischen Erstaufführung in der Halle E mehrfach in den Sinn kam, böte sich mit Hans Werner Henzes "Venus und Adonis". Als sich die nun voll ins Kraut geschossene postmoderne Beliebigkeit auf den Weg machte, demonstrierte der Altmeister noch einmal, wie man alte Chor-Madrigalkunst, modische Tanzmusikanleihen ("Sieben Boleros") und Reste musikalischer Avantgarde unter einen Hut bringen kann. Aber das ist 20 Jahre her, und seither ist viel lauwarmes Wasser die Uraufführungspfade entlang geronnen. Dass mit neuen Kompositionen das Opernleben vorwärtszubringen sei, glauben ja nur die Architekten von "Oper 4.0".

In Wahrheit bringt uns jede gute Aufführung von "La Cenerentola" weiter als diese "Antilope", deren Schlusspointe sich in Psychologie übt: Der kleine Bub, der seine Schokolade nicht ausgetrunken hat, entpuppt sich als Victor - deshalb hat er den verwirrten Helden schon bei seinem ersten Auftritt beim Namen genannt. Aha!

Im Übrigen stimmt, was einer der Partygäste schon zu Beginn prophezeit: "Die Nacht wird sich runden, doch zuletzt fehlt ein Stück."
Ein gutes Musiktheaterstück . . .


↑DA CAPO