Leben mit einem Idioten
Wiener Erstaufführung, 1993
Lauter liebe Narren
Schnittkes Leben mit einem Idioten in der Kammeroper
Alfred Schnittkes erste Oper in Wien; das Ius primae noctis und ein rauschender Erfolg für die Wiener Kammeroper; gute, klangvolle russische Stimmen; und die aufschlußreiche Erkenntnis, daß die Moskauer Kammeroper, die mit dem Wiener Schwesterinstitut diesmal kooperiert, heutzutage schon Lenin als Idioten auf die Bühne bringen darf, Lenin als Mistkübelstierer, Lenin als Homosexuellen, Lenin als sonstjemanden, dem man gewiß kein Mausoleum baut.
Das alles zusammengenommen wäre der Stoff, aus dem musiktheatralische Sensationen sind. Manchmal. Oder, wie in diesem Fall, solides szenisches und musikalisches Kunsthandwerk.
Schnittke ist als Schöpfer Neuer Musik geradezu populär geworden. Das ist ihm zu gönnen, stimmt aber gleichzeitig vorsichtig: Was so schnell angenommen wird, könnte seinen Erfolg etlichen Kompromissen verdanken.
Verdankt es auch: Die Mixtur aus nachschönbergschem Espressivo, bizarrer Ironisierung von Althergebrachtem, kunstvoll arrangierten Banalitäten läßt die Kommentatoren von der "Postmoderne" und ihren ungeahnten Freiheiten schwärmen und das Publikum aufatmen: Neue Musik kann, Schnittke beweist es ja, Dissonanzen vor uns auftürmen, die wir Kriminalfilm-gestählt den richtigen Stimmungslagen und Gefühlswelten zuzuordnen wissen. Sie muß uns also nicht überfordern. Sie kann auch Tschaikowsky und Chopin zitieren, kann neue Kantilenen über lupenreinen Mollakkorden erfinden - und all das ist eins. Angeblich. Von Schnittke ist es, weil er es arrangiert hat; perfekt arrangiert.
Solche kunsthandwerkliche Meisterschaft verpflichtet. Kammeropernchef Hans Gabor, der sich der Ehre der ersten Wiener Schnittke-Premiere versichert hat, weiß das und hat Altmeister Boris Pokrowskij engagiert, um dem musikalisch so effektsicher gebrauten Eintopf ein theatralisches Pendant zur Seite zu gesellen. Der über achtzigjährige Regisseur läßt sich nicht lumpen. Er versteht das Inszenierungs-Handwerk mindestens so gut wie Schnittke jenes des Komponisten.
Tobende Statisten im Zuschauerraum
Also ist in der realistischen Ost-Wohnzimmerlandschaft Viktor und Rafail Volskis ständig alles in Bewegung, nimmt der Chor unausgesetzt an der Handlung teil, verwandelt sich auch der Zuschauerraum kurzzeitig in ein Irrenhaus, in dem Statisten toben. Auch, was die Sänger tun, wenn sie gerade keinen Auftritt haben, erlebt man mit. Was der Inszenierungskniffe in den letzten paar Jahrzehnten nur war, bringt Pokrowskij in den knapp zweistündigen Abend ein. Das wirkt - wie Schnittkes Mischmasch.
Erzählt wird in dem Stück, das Viktor Jerofejew gedichtet hat, von der aberwitzigen Persönlichkeitsumwandlung eines braven Bürgers, der sich aus eigenem Antrieb einen Irren ins Haus holt, der ihm zuerst die Wohnung durcheinander bringt, dann die Frau ausspannt und ihn zuletzt so weit treibt, daß er sich selbst ins Irrenhaus sperren läßt. Eine Parabel auf die Entmenschung im Sowjetsystem. Und auch sonst, weil surrealistisch, recht anregend. Auch Marcel Proust tritt auf und beklagt die Tatsache, daß der Irre im Leninkostüm die Gesamtausgabe seiner Werke zerfetzt.
Gesungen wird in russischer Sprache. Die Künstler der Moskauer Kammeroper lassen im kleinen Haus am Fleischmarkt ungewohnt kraftvolle, zum Teil wirklich klangschöne Stimmen laut werden. Und manchen Falsett-Ton, wie er in Schnittkes polystilistischer Partitur zwecks Erzielung des entsprechend narrenmäßigen Hysterie-Effekts selbstverständlich auch gefordert wird.
So kommt ein wirklich gut gemachter, ganz und gar unaufregender Theaterabend zustande. Ganz, wie's dem Stück entspricht. In der Kammeroper findet also Schnittke statt. Das ist nicht außerordentlich, aber, einmal genossen, durchaus wirkungsvoll.