Der Evangelimann

Wilhelm Kienzl

Berlin, 1895
Neun Opern hat Wilhelm Kienzl komponiert. Mit seinem Evangelimann gelang ihm der entscheidende Erfolg, der seinen Namen in die Annalen der erfolgreichen Musiktheater-Komponisten der Zeit um 1900 eingehen ließ.

Karl Muck, dem die Partitur gewidmet ist, dirigierte die Berliner Uraufführung am 4. Mai 1895. Am 11. Jänner des folgenden Jahres erklang das Werk erstmals an der Wiener Hofoper. Darauf folgten Dutzende Einstudierungen rund um die Welt. In Covent Garden sang Ernest van Dyck anläßlich der englischen Erstaufführung den Matthias. Im noch zaristischen Rußland mußte das Stück unter dem Titel Matthias Freudhofer gespielt werden - den Originaltitel hatte die Zensur unter dem Druck der orthodoxen Kirche verboten. Sogar bis in den Harem des letzten osmanischen Herrschers drang der Evangelimann vor - er wurde dort vor 500 Frauen (in voller Burka) gespielt.

Seine Entstehung verdankt das Werk einem Zufall, der zur Entstehung der Oper führte. Kienzl war gerade mit den Vorbereitungen zu einer Münchhausen-Oper beschäftigt, als er bei einem Münchner Buchhändler Leopold Florian Meißners Aus den Papieren eines Polizeikommissärs fand, ein Taschenbuch zu 20 Pfennig. Was eine leichte Lektüre für Kienzls Frau sein sollte, entpuppte sich als Inspirationsquelle für Kienzls erfolgreichste Oper: „Lies das, Wilhelm, da ist etwas ganz Dramatisches drin,“ soll Kienzls Frau gesagt haben - im Jänner 1894 war die Skizze der Oper vollendet. Widmungsträger Karl Muck war der erste, dem der Komponist es am Klavier vorspielte. Graf Hochberg, Intendant der Königlichen Oper Berlin, war ebenfalls zugegegen - und griff zu.

Dramaturgie

Die Handlung basiert auf einer wahren Geschichte, die zwar eine entscheidende dramaturgische Wunde aufweist: Die junge Dame, in die sich zwei Brüder gleichzeitig verlieben, erlebt die Lösung des Konflikts nicht, sondern stirbt bereits »während der Pause«...

Und doch erwiesen sich Handlung und Musik als äußerst effektvoll - ein frühes Beispiel für eine deutsche Anverwandlung der Stilmittel des Verismo.

Wagnerismus

Die Musik Richard Wagners stand Pate bei der Komposition. Das Liebesduett im ersten Akt verdankt dem Tristan so viel wie die Szenen des »bösen« Bruders Johannes den Auftritten des Alberich - und im Finale des Amfortas.

Doch gelang Kienzl erstaunlich bruchlos die Einbindung des volkstümlichen Idioms in den dramatischen Fluß - eine Leistung, die ihn nachwagnerischen Meistern wie Huperdinck oder Siegfried Wagner zur Seite gesellt und ihn zum Paten für die kommenden Generation österreichischer Opernmeister, allen voran Julius Bittners machte.

Das »Selig die Verfolgung leiden«, das der nach langer unschuldig verbüßter Haft zum Evangelimann gewordene Mathias singt, gehört ebenso hierher wie Magdalenas O schöne Jugendtage im zweiten Akt, volksliedhafte Gedanken, doch Kienzls eigene Erfindung. Die Kegelszene wurde zum Vorbild für etliche ländliche Genreszenen, die Kienzl und denn folgenden Komponisten keine gute Nachred' bescherten - wobei die Behandlung, die das Volk hier dem armen Zitterbart angedeihen läßt, einen äußerst bitteren Nachgeschmack hat. Stilkritik setzte übrigens schon anläßlich der Wiener Erstaufführung ein: Der gestrenge Eduard Hanslick ortete in der folkloristischen Melodik Kienzls »sentimentalen Bänkelsang«.

Erste Schallplatten

Der Popularität Kienzls war die Mixtur aus großer Oper und Volksstück förderlich: 1911 entstand bereits eine zweiseitige Schellackplatte mit einer Orchesterfantasie aus dem Evangelimann.

1919 brachte der beliebte Tenor Richard Tauber eine Platte heraus, deren A-Seite das »Selig sind, die Verfolgung leiden« enthielt, während sich auf der B-Seite das nicht minder berührende »Lug’ Dursel, Lug’« aus Kienzls zweiter Erfolgs-Oper Der Kuhreigen (1911) fand.

Tauber sang den Mathias auch an der Seite Lotte Lehmanns in der Galaaufführung zum 70. Geburtstag des Komponisten im Jänner 1927 an der Wiener Staatsoper. Richard Strauss und Gustav Mahler haben in ihrer Opernkapellmeister-Karriere den Evangelimann des öfteren dirigiert. Strauss' spektakulärere Opern verdrängten das Werk aber bald von den Spielplänen. Versuche, den Evangelimann nach 1945 wieder aufzunehmen, blieben punktuell, wenn auch anläßlich der Premieren meist höchst erfolgreich, denn das Werk ist und bleibt höchst wirkungsvoll. Die Kommentatoren hielten Kienzls Werk jedoch eines Sinnes für völlig unzeitgemäß.

Interessant bleibt dabei, daß eine Generation von Geschmacksbildnern, die der Gattung Musical jegliche Sentimentalität zugesteht, jeden Anflug davon bei der Oper für unstatthaft hält.

Interessant auch der verblüffende Gleichklang der Handlung zwischen dem Evangelimann und dem Opernerstling des englischen Komponisten Ralph Vaughan Williams, Hugh the Drover (1914). Vaughan Williams studierte bei Max Bruch in Berlin, Ende der Neunzigerjahre, hat also den Anfangserfolg des Evangelimann mit ziemlicher Sicherheit live miterlebt. Seine Oper gilt als Initialzündung der Opernproduktion in England im XX. Jahrhundert...

Handlung

Erster Akt

Der Schulmeister Johannes Freudhofer und sein Bruder Mathias haben sich in dasselbe Mädchen verliebt: Martha, die Nichte des Magistrats Friedrich Engel. Martha liebt Mathias und hat sich heimlich mit ihm verlobt. Als der Vater davon erfährt, verstößt er Mathias. -- Eine Kegelpartie wird zum Ort allgemeiner Belustigungen; die aber arten aus, als einige Männer den Schneider Zitterbart verhöhnen. -- Martha und Matthias nehmen Abschied, schwören einander aber ewige Liebe. Johannes wird Zeuge des Zwiegesprächs und steckt die naheliegende Scheune in Brand, kann aber den Verdacht der Brandstiftung auf Mathias lenken, der verhaftet wird.

Zweiter Akt

30 Jahre später zieht Mathias, der eine lange Haftstrafe verbüßt hat, als Evangelimann durch die Lande. Für den Vortrag religiöser Lieder bittet er um Almosen. Magdalena, die sich in all den Jahren um Johannes gekümmert hat, erkennt Mathias und erfährt von ihm nicht nur seinen Leidensweg, sondern auch, daß Martha sich aus Verzweiflung ertränkt hat. Magdalena bittet ihn, wiederzukehren, um einen Sterbenden zu trösten. --- Dieser Sterbende ist niemand anderer als Mathias' Bruder Johannes, der von Schuldgefühlen gequält wird und sich überwinden kann, seine Sünden zu bekennen. Mathias nimmt ihm die Beichte ab - es kommt zu einer Erkennungsszene - und Mathias verzeiht. Johannes stirbt »erlöst«, die Kinder im Vorhof stimmen das Lied an, das der Evangelimann sie gelehrt hat: »Selig die Verfolgung leiden«. Aufnahmen



↑DA CAPO