Ein Leben für den Zaren
Mikhail Glinka (1836)
Vaterländische heroisch-tragische Oper.
Text von Giorgij Fjodorowitsch
Baron von Rosen und Wassilij Schukowskij
Uraufführung 1836, St. Petersburg
Neufassungen nach Sowjet-Manier, 1924 und 1939, Moskau
PERSONEN DER HANDLUNG
Iwan Sussanin, Bauer aus Domnino (Baß) – Antonida, seine Tochter (Sopran) – Wanja, von Sussanin adoptierter Waisenknabe (Alt) – Bogdan Sobinin, Antonidas Bräutigam (Tenor) – Sigismund III., König von Polen
(Baß) – Ein polnischer Bote (Bariton) – Ein russ. Krieger (Baß)
Das Dorf Domnino bei Moskau, das Schloß des polnischen Königs, ein Kloster bei Domnino und Moskau im Winter 1612/13.
1. Akt
Umjubelte Heimkehr des russischen Heers nach dem Feldzug gegen die Polen, die nach dem Tod Boris Godunows im Lande eingefallen waren. Das Bauernmädchen Antonida ist traurig. Ihr Verlobter Sobinin ist nicht heimgekehrt. Ihr Vater, Iwan Sussanin, will von einer Heirat ohnehin nichts wissen, solange das Land unter den Eroberungen und Plünderungen polnischer Soldaten zu leiden hat.
Da erscheint Sobinin doch! Er möchte seiner
Antonida das Jawort geben, dann aber sogleich wieder unter die Soldaten. Sussanin willigt ein, als er erfährt, der Feind sei schon geschlagen und in Moskau werde bald ein neuer Zar gekürt.
2. Akt
Im Warschauer Thronsaal. König Sigismunds feiert seinen vermeintlichen Sieg über Rußland. Mitten in eine Mazurka platzt die Hiobsbotschaft, das polnische Heer sei von den Russen knapp vor Moskau zurückgeschlagen worden. Sigismund befiehlt den unverzüglichen Gegenangriff.
3. Akt
Im Hause Sussanins wird die Hochzeit vorbereitet. Wanja dankt dem Ziehvater für seine Güte. Sussanin erzählt dem Knaben von Michail Romanow, der gerade in einem nahgelegenen Kloster Männer für sein Heer sammelt. Wanja wünscht sehnsüchtig, sich bald einem solchen Heer anschließen zu können.
Sussanin segnet das Brautpaar. Während Sobinin ausfährt, um noch fehlende Gäste zu holen, dringen polnische Soldaten herein und zwingen Sussanin, sie zum Versteck Minins zu führen. Der Bauer schickt heimlich Wanja aus, Minin zu warnen und hofft, die Feinde in die Irre zu führen. Er nimmt Abschied von Antonida in der Ahnung, sie nie mehr wiederzusehen.
Sobinin, zurückgekehrt, nimmt mit allen Gästen die Verfolgung auf.
4. Akt
Wanja hat das Versteck Minins erreicht und bewegt sie dazu, den Eroberern entgegenzumarschieren. – Inzwischen schwant den Polen Sussanins Betrug. Der mutige Bauer erbittet Gottes Beistand. Als er sicher ist, daß Wanja die Russen warnen konnte, gesteht er seine List. Er wird erschlagen.
Epilog
Vor dem Kreml lauscht das Volk bei der Siegesfeier Wanjas Erzählung von der Heldentat seines Ziehvaters. Iwan Sussanins wird hinfort als russischer Nationalheld gefeiert.
Hintergründe
In Michail Glinka ist während seines Studienaufenthalts in Berlin der Entschluß gereift, eine russische Nationalmusik schaffen zu wollen. Als ihm der Dichter Wassilij Schukowskij den von Kondrat
Rylejews 1823 zu einem Epos verarbeiteten Sussanin-Stoff empfahl, griff Glinka zu, wenn ihm auch das von Baron von Rosen, einem Erzieher des Zarewitsch
verfaßte Libretto ein wenig ›zu zaristisch‹ schien - was lange nach des Komponisten Tod zu einer kräftigen inhaltlichen Bearbeitung durch die sowjetischen Kulturvordenker führte. Sie wollten Glinkas Musik für ihre Zwecke vereinnahmen und machten aus dem Leben für den Zaren die Oper Iwan Sussanin.
Glinka nutzt die Möglichkeit Volksmusik aus Rußland und Tänze aus Polen zur Charakterisierung der einzelnen Schauplätze zu verwenden. Das russische Kolorit, ganz aus dem Volkslied geboren, machte ab sofort für die russische Oper unverwechselbar.
An den Chören des Epilogs nahm später Mussorgsky Maß. Letzte Reste von Italianità, wie sie zuvor lange Zeit die russischen Opernhäuser beherrscht hatte, tilgte Glinka, indem er die Arie Sobinins im vierten Akt, die in mitreißendem Schwung einer veritablen Cabaletta sechs hohe Cs und ein hohes Des vom Tenor verlangt hatte, durch ein sehr russisch gefärbtes Lied Wanjas ersetzte.
Susannins »Abschiedsarie« aus dem vierten Akt wurde sogleich zu einer Art hymnische der russischen Patrioten und zum musikalischen Banner der Volkskultur.
Sowjetisische »Säuberung«
Das Werk hielt sich bis zur Revolution ununterbrochen in den Moskauer und St. Petersbruger Spielplänen.
Das Sowjet-Regime versuchte, die Musik Glinkas für das Repertoire zu retten, indem zunächst ein revolutionärer Text unterlegt wurde und das Stück unter dem Titel Sichel und Hammer gespielt wurde.
Die Fassung von Sergej Gorodetzky, die unter dem Titel Iwan Sussanin 1939 uraufgeführt wurde, blieb dann der verbindliche Text für Jahrzehnte.
Die erste Gesamtaufnahme des Werks entstand 1947 in Moskau unter Alexander Melik-Paschajews Leitung mit Maxim Michailov in der Titelpartie - noch war Stalin an der Macht und man gab selbstverständlich nicht Ein Leben für den Zaren sondern Iwan Sussanin, und alle Erinnerungen an die Monarchie waren getilgt. Der Epilog wurde erst drei Jahre später unter Vasili Nebolsins Leitung eingespielt, ein für Melodia in jenen Jahren nicht untypisches Vorgehen. Doch dokumentiert diese Aufnahme das eminente vokale Niveau der Moskauer Boschloi-Aufführungen jener Ära.
Michailov war für die Russen der Inbegriff des Iwan Sussanin, stammte er doch aus einer Bauernfamilie und wurde zum orthodoxen Diakon, dessen Stimme bei den musikalisch ausgestalteten Meß-Feiern auffiel. Neben dem gewaltigen Baß besticht der helle, klare Sopran von Natalia Schpiller (1909 - 1995), die drei Jahrzehnte lang zu den Stützen des Ensembles gehörte und danach zu einer gesuchten Lehrerin am Gnessin-Institut wurde.
Als Sobinin ist Georgi Nelepp zu hören, der führende lyrisch-dramatische Tenor des Bolschoi-Theaters, Ende der Vierzigerjahre.
Boris Christoff sang den mutigen Bauern in der brillanten Orchestrierung der Partitur durch Nikolai Rimskij-Korsakow - zunächst auf Italienisch an der Seite Virginia Zeanis und Giuseppe Camporas unter Alfredo Simonetto für die Mailänder RAI, dann auf Russisch im Studio unter der Leitung von Igor Markevitch an der Seite von Teresa Stich-Randall und Nicolai Gedda, der die Urfassung der Arie des Sobinin mit allen Spitzentönen fast mühelos bewältigt. Diese Aufnahme ist - nicht zuletzt dank des Dirigats - nach wie vor die brillanteste im Katalog.