Der Prozeß

Gottfried von Einem (1953)

Livemitschnitt der konzertanten Aufführung, Salzburg 2018

(orfeo)




Neun Szenen in zwei Teilen op. 14
Text: Boris Blacher und Heinz von Cramer nach Kafka


Rezension der Aufführung, August 2018

Drei Jahrzehnte liegen jeweils zwischen den Versuchen, die Salzburgs Festspiele mit Gottfried von Einems Kafka-Oper "Der Prozeß" anstellten.
Die Uraufführung 1953 war ein schöner Erfolg, galt aber Vorkämpfern der Moderne als Akt der Retrospektive.
Die Wiederaufführung 1988 schien, kraftlos, diese Meinung zu bestätigen.

Und nun hält Dirigent HK Gruber, Schüler des Komponisten, nach der konzertanten Aufführung zum 100. Geburtstag von Einems unter tosendem Beifall die Partitur in die Höhe. Gruber weiß wie kein Zweiter um die wechselvollen Annäherungen seines Lehres an die Zeitströmungen, um seinen Einsatz für Bertolt Brecht, seine Skepsis gegenüber der musikalischen Avantgarde.

Und er nutzt als Interpret die Reibungsflächen, die sich bieten, als Energiequellen. Der zum Teil wirklich an Elemente des Brecht'schen Musiktheaters erinnernde Stil der "Prozeß"-Partitur scheint ja hie und da sogar parodistisch quer zu stehen zur irrational-bösen Geschichte des Josef K., der nicht weiß, wessen er angeklagt wird, zuletzt aber selbst an seine Schuld glaubt.

Groteske Elemente

Die bei Kafka freilich reichlich vorhandenen grotesken Elemente werden in der Vertonung zum eigentlichen Motor der Erzählung, treiben die Handlung in streng rhythmisiertem Puls voran. Sogar die Singstimmen scheinen hineingezwängt ins rigid getaktete dramaturgische Konzept, oft sogar unter Preisgabe der natürlichen Deklamation, damit sich dieser "Prozeß" aus vage-unerklärlichem Anfang in unausweichlichem Accelerando in die Katastrophe "swingt".

Grubers Kompromißlosigkeit ist es, was früheren Versuchen mit diesem Werk abging: Wer hier (frei nach Beethoven) "con alcune licenze" agiert, einem mißverständlichen "natürlichen" Ausdruck zuliebe, bringt das artifizielle Gebäude zum Einsturz. Allzu leicht läßt die Eigendynamik der depressiven, finsteren Psycho-Story die vorwärtstreibende theatralische Energie erlahmen.

Ein »Klangkraftwerk«

In der Felsenreitschule gingen Kafkas Geschichte und von Einems Musik in fortwährende Konfrontation: Das RSO Wien fungierte als Klangkraftwerk, malte aber auch lyrisch-sinnliche Intermezzi, Botschaften jener erotischen Konnotationen, die in Kafkas Dialogen zwischen Josef K. und diversen Damen immer nur zu erahnen sind. In diesen wenigen Momenten ist es den Sängern erlaubt, aus dem sonst eisern durchgehaltenen, kargen Rezitationston in melodischere Regionen auszubrechen: Michael Laurenz als Josef K. wird dabei vom kokett-soubrettenhaften Gegirre Ilse Eerens' angestachelt, die lyrischen Qualitäten seines Tenors zu entfalten. Da finden sich zwei leichte, eloquente Stimmen in durchaus opernhafter Manier.

Theater im Kopf

Wo die Handlung dramatischere Entfaltung verlangt, scheint dann allerdings allzu grobe Gewalt gefragt. Daß die Uraufführung mit dramatischeren Stimmkalibern aufwartete - Lisa della Casa sang die Sopranpartien, Max Lorenz den Delinquenten -, läßt auf entsprechende Klangvorstellungen des Komponisten schließen; ihnen setzten die Solisten der Salzburger Wiederaufführung freilich jenes Engagement entgegen, das nötig ist, ein solches Stück ohne dazu gehörige Bühnenaktion erlebbar zu machen.

Der Forderung, eine konzertante Aufführung müsse das Publikum animieren, sich das Theater im Kopf selbst zu inszenieren, wurde man mit erstaunlichem Erfolg gerecht. Vielleicht ist das in Zeiten, in denen Regisseure selten das tun, wozu sie erfunden wurden, ohnehin die bessere Lösung. Dennoch wünschte man sich nach dem eminenten Erfolg dieses Experiments, daß es nicht wieder drei Jahrzehnte dauert, bis man sich an eine szenische Realisation wagt, eine, die aus dem vom Komponisten bewußt geschürten Konflikt zwischen Handlung und musikalischer Dramaturgie die nötigen theatralischen Funken schlägt.

Singschauspieler

Wie Singschauspieler von Einems karge Vorgaben in stimmlichen Aktionismus ummünzen können, war bei Jochen Schmeckenbecher und Lars Woldt exemplarisch zu studieren, die Verfolgern und Peinigern das rechte beängstigende Profil verliehen.

Bei Jörg Schneiders Maler Titorelli auch, der dem verzweifelten Antihelden kurz vor Schluß noch als illusionistische Lichtgestalt erscheint. Johannes Kammler und Tilmann Rönnebeck ließen im surrealen Umfeld schöne Stimmen hören, Anke Vondung und ein sonores Männer-Terzett geben Stichworte und summen Hintergrundmusik.

Und das alles gibt - dank dem Label Capriccio ab Herbst 2018 auf CD nachhörbar - Anregung für künftige "Prozesse" - hoffentlich früher als 2048 . . .



Livemitschnitt der Salzburger Uraufführung unter Karl Böhm, 1953

↑DA CAPO