Welche Reizschwellen haben Lustmolche?
The Rape of Lucretia im Theater an der Wien
19. Dezember 2011
Theater an der Wien. Angelika Kirchschlager triumphiert in Keith Warners Inszenierung von Brittens "Rape of Lucretia", obwohl das Stück an dramaturgischer und musikalischer Anämie leidet.
Man kann auch mit Kanonen auf Spatzen schießen, zum Beispiel, indem man mit Riesenaufwand ein Stück wie Benjamin Brittens Rape of Lucretia herausbringt. Englands Vorzeige-Komponist hat ja einige wirklich schlagkräftige Musiktheater-Werke geschaffen, allen voran die von der Staatsoper mit so großem Erfolg gespielten Opern "Peter Grimes" und "Billy Budd".
Aber auch die Volksoper hat in der jüngeren Vergangenheit mit Britten punkten können. Zur Premiere des zauberhaften "Sommernachtstraums" war der Bann längst gebrochen: Das Publikum hat erkannt, dass Brittens Musik zwar aus dem 20. Jahrhundert stammt, aber so raffiniert mit klassischen und romantischen Assoziationen spielt, dass dem Ohr niemals Harm droht.
Als die Volksoper dereinst eine exzellente Produktion von "Albert Herring" herausbrachte, hatte sich das noch nicht herumgesprochen. Es waren die freien Gruppen, die mit Aufführungen von "Billy Budd" und "Tod in Venedig" das Eis zum Schmelzen brachten.
Pilgerfahrt zur Vergewaltigung
Jetzt also Rape of Lucretia, risikolos, im Theater an der Wien. Man pilgert bereits zu Britten, noch dazu, wenn ein Publikumsliebling wie Angelika Kirchschlager auf dem Programm steht. Allein, des Komponisten in vielen Fällen so sichere und präzise zupackende Theater-Pranke arbeitet in diesem Fall, als wäre sie eingegipst und könnte nur ab und zu ein paar Streicheleinheiten verteilen.
Einige hübsch illustrative, orchestrale Farbspielereien mit Harfengezirpe, ein paar rhythmische Attacken auch, wenn der von Lust getriebene Tarquinius (Nathan Gunn) nach Rom reitet und dann, wenn er, wie nach der Herren-Wette in Cosi fan tutte, die bedauernswerte Lucretia tatsächlich vergewaltigt - viel mehr gibt die Partitur nicht her.
Das Klangforum, an ungefähr zwanzigmal so kompliziert notierten Aufgaben geschult, exekutiert die Komposition unter Sian Edwards' sicherer Führung wie eine leichte Fingerübung. Es klingt durchwegs exquisit, aber ebenso durchwegs allzu harmlos für einen Opern-Krimi.
Die große Tragödin Kirchschlager
Einzig wirklich bewegender Moment: Wenn zu einer an Bach-Passionen gemahnenden Englischhorn-Melodie die geschändete Lucretia erscheint, um ihrem Gemahl (Jonathan Lemalu) die Untat zu gestehen - da ist die schiere Präsenz der bedeutenden Sing-Schauspielerin Kirchschlager ein Ereignis. So schön sie die unschuldigen Lieder am Webstuhl sang, so tragisch-groß entfaltet sich die Stimme vor dem Freitod der rettungslos verzweifelten Frau.
Des Librettisten Ronald Duncans Dramaturgie könnte ungelenker nicht sein. Die reizvolle Idee, die Handlung von einem "Chorus" (eine Dame, ein Herr) kommentieren zu lassen, versickert nach der Pause. So hängt auch die Parallelhandlung, die Regisseur Keith Warner zwischen Kim Begley und Angel Blue entwickelt (so etwas wie die verhinderte Beziehung zwischen einem Geschichtsprofessor und seiner Schülerin) in der Luft wie die unmotivierten moralisierenden Schlussbemerkungen.
Auf der mit enormem technischem Aufwand sich ständig verwandelnden Riesenbühne erstarrt alles (selbst die dankenswert dezent choreographierte Vergewaltigungsszene) in - allerdings sehr geschickt - arrangierten Tableaus.