Brünnhilde

Was Wagner sich ungefähr unter einer idealen Sängerin und Darstellerin der Brünnhilde gedacht hatte, während er den Text seiner Tetralogie dichtete und die ersten der Partituren fertigstellte, enthemen wir seinem Briefwechsel mit seinem bevorzugten Dirigenten, Hans von Bülow. An Bülow schreibt der Komponist 1857 :
Je näher nun die Zeit rückt, wo ich denn doch an Vorbereitungen für die Möglichkeit der Aufführung meiner Nibelungen denken muß, sorge ich auch für die Besetzung der weiblichen Hauptrolle – der »Brünnhilde«. Noch kann ich mich nicht überzeugen, daß ich eine geeignetere Darstellerin dafür finden werde, als diejenige, für die sie ursprünglich von mir bestimmt war, – meine Nichte Johanna.

Unglücklicherweise ist – wie Du weißt – zwischen mir und ihrem Vater, der nun einmal, wenn ich auch sonst gegen seine guten Eigenschaften gerecht bin, für mich etwas zum Widerwillen Aufreizendes hat, was mich, gerade da er mir durch Verwandtschaft so nahe steht, zum vollen Bruche führte, ein durchaus feindse- liges Verhältniß zu Stande gekommen. Dennoch käme es mir darauf an, Johanna für mein Vorhaben noch nicht ganz aufgeben zu müssen...

Johanna Wagner

Johanna Wagner schwebte ihrem Onkel als Idealbild der Brünnhilde bereits vor, als noch kein Ton der späteren Nibelungen-Musik notiert war. Vielmehr dachte er sich die Nichte als Brünnhilde bereits während der Arbeit am allerersten Entwurf zum damals noch allein stehenden Drama Siegfrieds Tod. Schon damals zeichnete sich ab, daß es sich hier um einen neuen Sängertypus handeln mußte.
In seinen Memoiren erinnert er sich:
Ich entwarf in flüchtiger Skizze die Musik zu dem in jener ersten Fassung nur andeutend ausgeführten Gesänge der Nornen; als ich auch Brünnhildes erste Anrede an Siegfried in Gesang übersetzte, entsank mir aber bald aller Mut, da ich nicht umhin konnte mich zu fragen, welche Sängerin im nächsten Jahre diese weibliche Heldengestalt in das Leben rufen sollte. Da fiel mir denn meine Nichte Johanna ein, welche ich früher in Dresden, so mancher schönen äußeren Begabung wegen, ungefähr für diese Rolle mir gedacht hatte.
Wer war nun Johanna Wagner und wie dürfen wir uns Erscheinung und Stimme der Sopranistin vorstellen, die dem Schöpfer bei Dichtung und Komposition vorschwebte?

In seiner Autobiographie erinnert sich Wagner einer von Spontini einstudierten Aufführung der Vestalin, in der die große, aber schon in ihrer späten Reifezeit befindliche Wilhelmine Schröder-Devrient die Titelpartie gestaltete.
Offenbar war unsere große Schröder-Devrient nicht mehr in dem Alter, und namentlich war ihr etwas mütterlich gewordenes Äußere nicht glücklich geeignet, um als jüngste der Vestalinnen, wie sie angesprochen wird, namentlich neben einer Oberpriesterin günstig zu wirken, welche, wie es hier der Fall war, durch ganz ausnehmend mädchenhaft jugendliche Schönheit, die durch nichts zu verbergen war, sich hervorhob. Dies war meine damals siebenzehnjährige Nichte Johanna Wagner, welche außerdem mit ihrer gerade um jene Zeit hinreißend schönen Stimme und glücklichen Begabung für theatralischen Akzent ganz unwillkürlich in jedem Zuhörer den Wunsch anregte, die Rollen zwischen ihr und der großen Meisterin vertauscht zu sehen.
Wagner war von Johanna bezaubert und komponierte im Gedanken an sie bereits die Partie der Elsa im Lohengrin und arbeitete mit ihr an der Rollengestaltung der Elisabeth im Tannhäuser, wo sie einen immensen Erfolg verbuchen konnte, freilich nicht ohne kritische Anmerkungen des Komponisten:
Die jugendliche Erscheinung ..., die schlanke hohe Gestalt, der entschieden deutsche Stempel ihrer Physiognomie, die damals noch unvergleichlich schöne Stimme, der oft kindlich rührende Ausdruck halfen ihr, bei gut geleiteter Verwertung ihres unverkennbaren theatralischen, wenn auch nicht dramatischen Talentes die Herzen des Publikums entscheidend zu gewinnen. Sie wurde durch diese Leistung schnell berühmt; und noch in späteren Jahren wurde mir, sobald von einer Aufführung des »Tannhäuser« mir gemeldet wurde, in welcher sie mitgewirkt, stets berichtet, daß der Erfolg desselben fast einzig nur ihr zu verdanken gewesen wäre. Wunderlicherweise hörte ich bei solchen Gelegenheiten fast immer nur ihr mannigfaltiges und höchst einnehmendes Spiel beim Empfang der Gäste auf der Wartburg rühmen; ich erkannte darin den andauernden Erfolg unglaublicher Bemühungen, welche ich und mein hierin sehr erfahrener Bruder uns in betreff dieses Spieles gegeben hatten. Leider ist aber für alle Zeiten es unmöglich geblieben, ihr den richtigen Vortrag des Gebetes im 3. Akte beizubringen; ... Wie ich höre, hat die eine Zeitlang für eine wahrhaft große Künstlerin geltende Johanna es wirklich auch nie so weit gebracht...


Die stimmliche Entwicklung Johanna Wagners, die der Onkel bald »primadonnensüchtig« nennt, spiegelt sich dann in einem Brief Wagners an Franz Liszt, dem Wagner einige Jahre später schrieb. schrieb:
Vor 6 Jahren hatte ich allerdings die Elsa für meine Nichte be- stimmt: jetzt würde sie mir bessere Dienste als Ortrud geleistet haben: allein, ob sie diese Rolle übernehmen würde, wäre so noch zweifelhaft. – Von großem Nutzen wird mir Johanna nie sein – ich bin mir darüber im Klaren.


Amalie Materna

In der Bayreuther Realität wird dann Amalie Materna die erste Brünnhilde, eine Sängerin, die seit 1864 an der Wiener Hofoper engagiert ist und die 1882 auch die erste Kundry anläßlich der Uraufführung des Parsifal gibt.

Die Empfehlung für Materna spricht Emil Scaria aus, ebenfalls in Wien engagiert und der erste Wiener Wotan - und in Bayreuth 1882 auch der allererste Gurnemanz im Parsifal. Er schickt eine Photographie seiner Kollegin nach Bayreuth - und Cosima Wagner notiert ein wenig indigniert:
R. erhält einen Brief und eine Photographie von Frau Materna, sehr durch H. Scaria empfohlen; schön, wenn man will, aber so plump! Eine Hamletische Stimmung bemächtigt sich seiner, er verliert fast die Lust, sich mit den Leuten zu beschäftigen!

Die direkte Begegnung mit der jungen Sängerin läßt Richard und Cosmia Wagner drei Wochen später anders denken.
...am Mittag plötzlich Ankunft von Frau Matena, welche uns außerordentlich gefällt. Abends sind wir zu 60 Menschen zusammen, und sie überrascht durch die Fülle und Frische ihrer Stimme sowie durch die Beherrschung des Materials.


Sechs Tage später, kurioserweise zu einem Zeitpunkt, da sie gerade von Heiserkeit befallen ist, erhält Amalie Materna von Wagner die Zusage: Sie wird die erste Brünnhilde in Bayreuth, später dann auch noch die erste Kundry im Parsifal. Wagner dichtet nach der Parsifal-Uraufführung:
Brünnhilde dort, Kundry hier,
überall des Werkes Zier!


Die »ungeheure« Brünnhilde

Um das Wohlergehen seiner ersten Brünnhilde ist Wagner ab seiner Zusage besorgt. Angesichts ihrer Wiener Verpflichtungen schreibt er im Herbst 1874:
Lassen Sie sich durch das Winter-Repertoir nicht zu sehr abhetzen; machen Sie es sich leicht, und erhalten Sie Ihre kostbaren Gesangskräfte unermüdet.« -
Deßhalb, unter Anderem, bin ich auch gegen den Tristan in Wien; es ist unnöthig, daß Sie gerade in diesem Winter neben dem Studium der ungeheuren Brünnhilde sich auch noch mit der so sehr angreifende Isolde abmühen.
Mitte Dezember schreibt der Komponist zur Vorbereitung der konzeranten Aufführung der Schlußszene der Götterdämmerung:
Wollen Sie nun die freundschaftliche Güte haben, diese Schlußscene sich recht genau anzusehen: leider kann ich Ihnen noch keinen ordentlichen Klavierauszug zur Hilfe geben; sobald Sie jedoch so weit sind, daß Sie ernstlicher daran studieren können, schicke ich Ihnen sofort Herrn Joseph Rubinstein zu, welcher diese Scene so genau kennt, daß er sie Ihnen vortrefflich und mit größter Verständlichkeit wird begleiten können. Dieß betrifft also den letzten Auftritt der Brünnhilde im dritten Akt, von den Worten an:
Schweigt Eures Jammers
Jauchzenden Schwall!
Das Ihr Alle verriethet,
Zur Rache schreitet sein Weib!
worauf wir dann die Zwischenrede mit Gutrune auslassen und nach einem Uebergange gleich mit:
»Starke Scheite schichtet mir dort«
fortfahren. Ich glaube, wenn ich auf Ihre freundliche Mithilfe rechnen kann, durch diese Auswahl meinem – höchst schwierig einzurichtenden Programm, jedenfalls das bedeutendste Bruchstück aus meinem Werke beizugeben.
Wie wichtig die Dichtung der Zusatzstrophen für Wagner war, wie sehr sie die Musik zum Schlußgesang inspiriert haben, bestätigt eine Notiz Cosima Wagners in ihrem Tagebuch:
... der ganze Schluß eigentlich die Paraphrase der nicht komponierten Worte: »Nicht Goldesglanz etc., selig in Leid und Lust läßt Liebe nur sein.« – – Die gesamte Götter-Welt, die Naturmächte, die Heroen alle dienen gleichsam einzig dazu, das edelste Weib zu verherrlichen! ...

23. April 1875



Wirklich herzlich klingen die Dankesworte, die Wagner post festum an seine Brünnhilde richtet:
Mein liebes, theures Wesen!

Treueste aller Getreuen!

Lob, Ruhm, Ehre und Liebe vor allen Ihnen, meine tapfere Brünnhilde! Sie waren die Beste und Vertrauteste, die nur dem einen lebte, nie wankte, muthig, fest und heiter von Gelingen zu Gelingen vorwärts schritt!

Wie danke ich Ihnen, Gute! Nun bleiben Sie, was Sie waren und sind! Treu und muthig! So tragen Sie wieder dazu bei, mich zu erheitern, der ich jetzt von einer lastenden Schwermüthigkeit erfaßt bin, und nur den Augenblick ersehne, der mich zur Zerstreuung führt. In wenig Tagen, etwa nächsten Donnerstag, gehe ich mit der ganzen Familie nach Italien. Von dort aus grüße ich Sie wieder, wie wir alle heute Sie aus vollstem Herzen grüßen! Bleiben Sie gut Ihrem

Richard Wagner.

Bayreuth, 9. Sept. 76.



Darüber, daß in der internationalen Bühnenpraxis seine dramaturgischen Vorstellungen szenisch wie musikalisch verwässerrt werden würden, gab sich Wagner keinen Illusionen hin. Realistisch schreibt er zwei Jahre nach der Bayreuther Premiere über die Wiener Ring-Aufführungen an seine Brünnhilde:
Fast schmerzlich bedauere ich, daß, wie ich erfahre, Ihnen so Vieles, welches wir so schön und tüchtig zusammen ausarbeiteten, bei der Wiener Aufführung verstümmelt worden ist. Es ist recht schade! Aber – wir bleiben die Alten und Echten.
Ihr
Richard Wagner.

Bayreuth, 13. November 1878.





↑DA CAPO