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Eugen Onegin

Musik von Peter Iljitsch Tschaikowsky (1879)

»Lyrische Szenen« nach Puschkins gleichnamigem Versroman.

Die Gattungsbezeichnung, die Tschaikowsky für seine berühmteste Oper gewählt hat, erzählt viel über den Charakter dieses Werks - und über die Absichten, die der Komponist damit verfolgte. »lyrischen Szenen in drei Akten«, also keine große Oper, keine große Oper, keine dramatische, aufregende Handlung. Musikalisch-theatralische Seelebespiegelung, tönende Charakterportraits.

Ich brauche keine Zaren, Zarinnen, Volksaufstände, Schlachten, Märsche. Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf den Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können.

Alexander Puschkins Versroman »Eugen Onegin« (erschienen 1833) war Tschaikowskys Vorlage. Kommentatoren hatten ihn als »Enzyklopädie des russischen Lebens« bezeichnet - und der Koponist fand die Figuren, die er zu singenden Bühnengestalten formen konnte, in deren Schicksal sich seine Erlebnisse, Gefühle, Probleme widerspiegelten.

Puschkins Eugen Onegin ist einer jener »überflüssigen Menschen«, die sich in der russischen Literatur ungezählte Male wiederfinden. Der Inbegriff eines gelangweilten, durch Erbschaft und Stand zu Reichtum und unendlich viel Freizeit gekommenen Nichtstuers, der sich aus Langeweile schon auch einmal für einen schal gewordenen Ehrbegriff zu duellieren bereit ist - und der Mädchenherzen bricht, weil er nicht imstande ist, auch nur ein ehrliches Gefühl in seiner Seele aufblühen zu lassen.

Die Handlung

Im Zentrum der Oper steht Tatjana, Tochter eines Gutsbesitzers, die der Fadesse und Oberflächlichkeit des Lebens durch Lektüre zu entfliehen sucht. Sie lebt, anders als ihre lebenslustige, diesseitsbezogene Schwester Olga, in ihren Büchern. In dieser Fantasiewelt ist es möglich, daß sich - in der berühmten »Briefszene« dem Mann, den sie liebt, ihre Zuneigung in einem intimen Schreiben offenbart.

→ Tatjanas Brief (Puschkin)

Tatsächlich setzt sie als Frau damit eine mutigen Akt, den der Adressat auch als ungewöhnlich zu würdigen weiß: Eugen Onegin, ein Bekannter des Geliebten von Tatjanas Schwester, Lenski. Doch darüber hinaus kann Onegin für das Mädchen nichts empfinden. Er bringt ihr den Brief zurück und ermahnt sie, ihre Schwärmereien nicht an unwürdige, nichtsnutzige Existenzen zu verschwenden, wie er eine sei...

Als der Namenstag der traurigen, zurückgewiesenen Tatjana mit einem Ball und allerlei artigen Gratulationen - wie einem Couplet des französischen Gastes Triquet - gefeiert wird, provoziert Onegin zu allem Überfluß noch einen Streit mit Lenski: Vor den Augen aller macht er dessen Freundin Olga den Hof. Das Fest endet mit einem Eklat: Lenski fordert Onegin zum Duell.

Nach einem weiteren Beweis der Gefühlskälte der handelnden Personen - beide sind davon überzeugt, sich versöhnen zu müssen, doch keiner will den ersten Schritt tun - tötet Onegin den einstigen Freund.

Nach dreijähriger unsteter Wanderschaft durch Europa kehrt er nach St. Petersburg zurück - und findet Tatjana an der Seite eines verdienten, älteren Generals, der ihm eine kleine Lektion in Sachen Liebe und Ehe erteilt.

Erst jetzt erkennt Onegin, sein leben falsch gelebt zu habe und bestürmt Tatjana mit einem späten Reue- und Liebesbkenntnis. Doch die Frau, die ihn immer noch liebt, hat die Größe, ihn zurückzuweisen.

Die von allen formalen Vorbildern gelöste, lockere Reihung der »lyrischen Szenen« macht aus Eugen Onegin eine musiktheatralische Bilderfolge, die von Moment zu Moment neue Schlaglichter auf die handelnden Personen und ihre Befindlichkeit wirft. Man betrachtet nicht nur Tatjana und Eugen Onegin, sondern auch Olga und Lenski, den nur mit einer, aber dafür wirkungsvollen Arie bedachten Fürsten Gremin, und sogar Nebenfiguren wie Monsieur Triquet, die Ball-Gesellschaft, die Bauern wie in detailverliebten Gemälden einer Portrait-Galerie. Szenen wie das einleitende Quartett mit der Gutsbesitzerin und der Amme im Vordergund und den beiden Töchtern im Garten könnten sich ebenso in der Tretjakov-Galerie finden wie der rührende Dialog Tatjanas mit ihrer Amme im Schlafgemach. Selbst den Sekundant Saretzki, der im Duell die fatale Rolle des »Ordnungshüters« spielt, zeichnet Tschaikowsky mit wenigen Strichen scharf und präzis.

Die Russen betrachteten Tschaikowskys Oper zunächst skeptisch. Puschkins Versroman galt ihnen als Allerheiligstes unter den Kulturgütern ihres Landes. Turgenjews äußerte sich kurz nach der Uraufführung der Oper in einem Brief an Tolstoi ensetzt über den Versuch, die Dichter-Verse in einen Libretto-Text umzuwandeln. Und noch Vladimir Nabokov, der eine Übersetzung von Puschkins Roman vorgelegt hat, nennt Tschaikowsky Oper einen »Schmarrn«. Die Aufführungszahlen sprechen jedoch eine andere Sprache. Neben Mussorgskys Boris Godunow ist diese vermutlich die erfolgreichste russische Oper der Geschichte.



↑DA CAPO