Erwartung

Arnold Schönberg

komponiert 1909
Uraufführung: 1924

In gewissen Hinsicht kann die Erwartung, die Schönberg im Herbst 1909 innerhalb weniger Tage (27. August bis 12. September) komponiert hat, als konsequente Weiterführung der radikalsten Passagen aus Richard Strauss wenige Monate zuvor uraufgeführter Elektragesehen werden.

Das Werk steht also nicht nur im Kontext des Schönberg‘schen Schaffens, sondern wird durchaus als - wenn auch besonders weitgehendes - musikhistorisches Phänomen seiner Zeit verständlich. Auch Strauss findet etwa in der Klytämnestra-Szene seiner Atriden-Oper zu Akkordschichtungen, die über weite Strecken tonale Auflösungstendenzen suggerieren.

Schönberg treibt dieses, aus den psychologischen Hinter- und Untergründen des Textes gespeiste Verfahren weiter, indem er auf die von Strauss stets raffiniert plazierten Dur- und Molldreiklänge verzichtet, die im musikalischen Gefüge architektonisch Halt schaffen. Schönbergs tonale Bezüge, durchaus vorhanden, sind verschleiert, weniger direkt greifbar.

Insofern wirkt sein Werk moderner, weiter abgewandt von nachwagnerscher Romantik.

Spektralanalyse des Augenblicks

Anders als die immer zielgerichteten kompositorischen Vorgänge bei Strauss, ist dieser Einakter als eine Art Spektralanalyse eines einzigen Augenblicks.

Was schon für die kurzen Klavierstücke oder die berühmten „Farben“ aus den Orchesterstücken konstatiert wurde, findet hier seine sozusagen bühnentaugliche Umsetzung ins Musikdramatische. Schönberg formuliert die Antithese zum kosmischen Raum, in dem sich Wagners Tristan und Isolde verlieren. Er spiegelt psychologisch das Innenleben eines verzweifelten Menschen. Alle Eindrücke, Sinnesregungen, Ängste, Wünsche und Erwartungen, wie sie in zusammengedrängt in einem bestimmten Augenblick erfahrbar werden, schlüsselt das Kurzdrama akribisch auf.

Zeit und Raum

Die zeitliche Ausdehnung der musikalisch-szenischen Abwicklung dient nur der präzisen Darstellung aller Details, das Sichtbar- und Hörbarmachen der Zentrifugalkraft des Augenblicks. Es sei, so Schönberg, „die Absicht, das was sich in einer Sekunde seelischer höchster Erregung abspielt, sozusagen mit der Zeitlupe auf eine halbe Stunde ausgedehnt, darzustellen.“

Dargestellt und psychologisch seziert wird jener Moment, in dem „die Frau“, die einzige handelnde Person des Stückes, im Wald auf die Leiche ihres Mannes trifft. Er ist, wie wir aus dem fragmentarische, wie aus Gesprächs- oder Gedankenfetzen bestehenden Text erfahren, seiner Liebe zu einer andern zum Opfer gefallen.

Der Text

Die Umstände bleiben mysteriös, die Dichtung Marie Pappenheims entzieht sich jeglichem realen Zugriff. Sie ist ein Dokument des literarischen Expressionismus, der nicht von ungefähr an die zeitgleichen Errungenschaften der Psychoanalyse erinnert.

Was spätere Generationen für allzu emotionellen Exhibitionismus halten konnten, war damals Textgestaltung auf der Höhe der Zeit. Immerhin hat der kritische Karl Kraus Gedichte der Preßburger Medizinstudentin Pappenheim einer Veröffentlichung für Wert befunden.

Die Erwartung liest sich wie dis Schonungslose Selbstbespiegelung eines Individuums mit jäh und unreflektiert herausgestoßenen Verzweiflungs- oder Angstlauten und Traumvisionen. Dem entsprechen die musikalischen Gestaltungsmittel, die ebensowenig zielgerichtet scheinen wie der manisch in sich kreisende Text. Figuren, eben erst aufgerichtet, brechen schnell wieder in sich zusammen.

Die Musik

Wie die Harmonien, dürfen auch die musikalischen Gestalten anarchisch und unverbunden aufeinanderfolgen. Der Befreiung von der Tonalität folgt die Entgrenzung, die Auslöschung der zeitlich strukturierten Form. Der Klang geboren aus der Notwendigkeit des Moments, herrscht absolut. Und an klanglichem Abwechslungsreichtum gebricht es der Partitur in keiner Sekunde.

Schönberg orchestriert mit vorher nie dagewesener Imaginationskraft. Selten führt er alle Instrumente seines groß besetzten symphonischen Apparats zum massiven Tuttiklang zusammen. Stattdessen schillern, leuchten und glitzern, ächzen, wirbeln und stöhnen die ungeahntesten Instrumentalkombinationen.

Der koloristische Reichtum, der auch später für große Schönberg-Partituren charakteristisch sein wird - so etwa in den Orchestervariationen oder in Moses und Aron - entfaltet sich in der Erwartung in geradezu verschwenderischem Variantenreichtum. So wurde die Erwartung zum Kultstück für die spätere Avantgarde. Sie hat in dramaturgischer, harmonischer, instrumentationstechnischer und formaler Hinsicht Maßstäbe gesetzt.

Unaufführbar?

Den Zeitgenossen schien das Werk unaufführbar. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis diese Musik erstmals erklang. Obwohl der Dirigent Artur Bodanzky Erwartung bereits 1910 in Mannheim herausbringen wollte und Schönbergs Schwager, Alexander von Zemlinsky, sich immer wieder bemüht hat, die Partitur an verschiedenen Häusern durchzusetzen, fand die Uraufführung (unter Zemlinskys Leitung mit Marie Gutheil-Schoder in der Rolle der Frau) erst am 6. Juni 1924 im Deutschen Theater in Prag statt. Sechs Jahre später trat der Komponist in einen Briefwechsel mit dem Berliner Opernintendanten Ernst Legal, der das Werk in seinem Haus am Platz der Republik aufführen ließ.

Bühnen-Visionen

In diesem Zusammenhang beharrte Schönberg auf einer realistischen Darstellung der geforderten Szenerie: „das ganze Stück kann als ein Angsttraum aufgefaßt werden. Darum muß es aber auch ein wirklicher Wald sein und kein bloß ,sachlicher‘, denn vor einem solchen kann man sich grausen, aber nicht fürchten.“ In seinem theatralischen Geschmack blieb der musikalische Revolutionär stets konservativ. Stilisierte Darstellungen seiner Werke hat er abgelehnt. Für die Berliner Aufführung entwarf der geschickte Bastler Schönberg sogar ein Bühnenbildmodell, in dem er mittels zweier kleiner Drehscheiben demonstrierte, wie die offenen Verwandlungen des Bühnenbilds in der erforderlichen Geschwindigkeit zu bewerkstelligen sein könnten.

↑DA CAPO

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