Lear
Aribert Reimann nach Shakespeare (1978)
Die Uraufführungsproduktion mit Dietrich Fischer-Dieskau auf CD
(DG)
Da mußte man hin!
Als junger Wiener Kompositions-Student pilgerte man anno 78 nach München. Aribert Reimann hatte Shakespeares Lear in eine Oper verwandelt. Einer der führenden Avantgardisten an der Schwelle zur heraufdämmernden kompositorischen Freizügigkeit, die bald "Postmoderne" genannt wurde; und eine Besetzung, die eine optimale Umsetzung des Werks garantierte.
Tatsächlich blieb schon die Eingangsszene unauslöschlich im Gedächtnis haften: Dietrich Fischer-Dieskau schritt über Jean-Pierre Ponnelles pittoreske wüste Landschaft, die, je nach Beleuchtung, auch wie eine stilisierte Weltkugel aussehen konnte. Der grandiose Singschauspieler verteilte sein Reich und verstrickte sich dann unrettbar ins tödliche Ränkespiel.
Reimanns Musik in ihren grellen Dissonanzballungen und albdruckartigen Akkordkonglomeraten stieß die Hörer schwer vor die Köpfe - doch war nach Jahren des erbitterten Kampfes gegen jeden avantgardistischen Ton die Neugier erwacht, der Bann gebrochen: Die Theaterpranke Reimanns garantierte eine Klangkulisse, die Shakespeares Figuren zum optischen auch den effektvollsten akustischen Raum gab. Mir fehlt der Rhythmus, meinte eine Dame in der Publikumsdiskussion im Anschluss an die Münchner Premiere - noch rhythmischer kann er nicht, entgegnete Dirigent Gerd Albrecht angesichts der brachial-komplizierten harmonischen und metrischen Schichtungen der Partitur. Beide hatten recht - Lear lässt sich nicht wie eine Puccini-Oper über Melodik und Harmonik dechiffrieren, aber auch nicht wie Strawinsky entlang der rhythmischen Bewegungsachse.
Eine Generation, die Abstraktion in der Bildenden Kunst akzeptiert hatte, baute den Widerstand gegen die musikalischen Tabubrüche ab. Lear war das Menetekel. Der enthusiastisch begrüßten Uraufführung folgten etliche Neuinszenierungen - und mit Harry Kupfers Berliner Produktion, bei deren metaphysischem Sturm auf der Heide die Schollen von Reinhart Zimmermanns Bühnenboden sich katastrophisch übereinanderzuschieben schienen, war das Stück aus dem Repertoire nicht mehr wegzudiskutieren. Auch wenn Reimanns Ansprüche die Interpreten nach wie vor extrem fordern.
Ah so, Lear?, fragte einst der greise Karl Böhm im Münchner Dirigentenzimmer, als sein Blick auf eine mit Tausenden Zweiunddreißigstelnoten übersäte Seite in Gerd Albrechts Partitur fiel: Na ja, der Shakespeare ist ja auch keine Idylle.
Weiß Gott!