Die tote Stadt

Zürich erweckte Korngolds »Tote Stadt« wieder zum Leben

15. April 2003


Das war der Angstgegner von Richard Strauss! Nicht der feinnervige Zemlinsky, schon gar nicht Franz Schreker mit seinen amateurpsychologisch veroperten Seelen-Gemischtwaren konnten dem Meister des Rosenkavaliers etwas anhaben. Aber der 23jährige Wiener Erich Wolfgang Korngold schrieb mit der Toten Stadt ein Musikdrama, das vom Publikum gestürmt wurde.

Es ist müßig, nachzudenken, warum der Welterfolg nach dem »tausendjährigen« Schweigen nicht erneuerbar schien. Wohl trägt das Verdikt des engstirnigen Adorno und seiner mafiosen Nachbeter einige Schuld. Doch spätestens mit dieser Wiederbelebung in Zürich ist das Stück wieder da.

Denn Dirigent Franz Welser-Möst und Regisseur Sven Eric Bechtolf glauben an die musiktheatralische Variante des Fin-de- siecle-Romans von Georges Rodenbach, spüren darin brisante Bezüge zu unserer Zeit auf. Und sie bringen das Kunststück zuwege, ihr Publikum mit einem Rausch an musikalischer Schönheit nicht sinnlos zu betäuben, sondern wach zu machen für die Botschaft des Werks. Die schält Bechtolf mit Chirurgenhänden aus der scheinbar so oberflächlich im Zwischenkriegs-Zeitgeist verhafteten Vorlage.

Nährboden der Psychoanalyse

Gewiß, da ist die beginnende Psychoanalyse mit sexueller Obsession, Persönlichkeitsspaltung usw. Da findet einer nach dem Tod seiner geliebten Frau den Anschluß an die Außenwelt nicht mehr und schielt nach einem Phantom. Die Tänzerin Marietta sieht aus wie die tote Marie, verwandelt sich in eine Idee fixe, wird vom verwirrten Helden zuletzt getötet. Denn nur so gleicht sie Marie ganz und gar.

Diese Handlung entpuppt sich als Traum. Ein Traum, der zugleich »Trauerarbeit« ist: Erst danach ist der Weg zurück ins Leben frei. Vor dem Zuschauer läuft der Alp in starken Bildern ab, die Bechtolf mit Hilfe der Szene (Rolf und Marianne Glittenberg) etwa am Beginn der Moderne ansiedelt und durch Überzeichnung der Figuren in Regionen künstlerischer Nachtmahre irgendwo zwischen Kafka und Herzmanovsky-Orlando verweist. Da werden aus den Obsessionen des Witwers Paul die Obsessionen unserer Zeit, in der unbewältigtes Seelen-Wirrwarr im Ausklang eines großen, kaum mehr in Ansätzen begriffenen Kulturerbes nur noch in Perversionen ausartet.

Gruselkabinett der Monstrositäten

So rückt Bechtolf die im Stück nobel umschriebene Sehnsucht Pauls nach seiner toten Frau zur Nekrophilie, definiert ihr Sterben als Selbstmord. Die Leiche liegt als Devotionalie in der Badewanne. So verwandelt sich die Gaukler-Kompanie in ein Gruselkabinett der Monstrositäten und Abartigkeit.

Korngolds Musik trägt, jagt, peitscht uns durch dieses Panoptikum und schärft unsere Sinne, um deßen Gehalt zu dechiffrieren. Welser-Möst zaubert aus dem Zürcher Opernorchester ein Pandämonium klanglicher Expression. Da wird nicht nur das böse Wort entkräftet, daß schon beim jungen Korngold alles wie Filmmusik klinge. (Die Wahrheit ist: Hollywood klingt immer nach Korngold!) Vielmehr wird in Zürich dank Auslotung der genialen Partitur der Stellenwert des Komponisten redefiniert. Korngold schrieb Musik auf der Höhe seiner Zeit, farbiger vielleicht sogar als Strauss, voll kühner harmonischer Schnitte, klanglicher Hexenmeistereien: von der häßlichen Karikatur bis zum schwelgerischen Sehnsuchtsklang - alles, was die Ära zwischen Schönberg und Lehar in ihrer Schatztruhe bewahrt.

Eine solche Orgie an Effekten Punkt für Punkt zu realisieren, daraus große Szenen, packende Steigerungen, orchestrale Delirien zu formen und dabei den organisierenden klaren Kopf nicht zu verlieren, ist Mösts große Leistung. Er hält die szenischen und die nicht minder sprunghaften musikalischen Bilder zusammen, formt ein unentrinnbares Gesamtkunstwerk.

Aus der symphonischen Fülle heben sich die Stimmen. Leuchtkräftig und stark wie jene von Emily Magee (Marietta), oder wacker um große Linien und kleine Siege gegen die Widerspenstigkeit des (von Korngold so strapazierten) höchsten Registers kämpfend (Norbert Schmittbergs Paul). Olaf Baer gibt den fürsorglichen, im Traum zum Nebenbuhler mutierten Freund Frank, singt das Pierrot-Lied vom "Sehnen und Wähnen" mit anschmiegsamem Bariton. Eine makellose Tänzerin verkörpert Pauls sexuelle Phantasien im wahrsten und nacktesten Sinn des Wortes. Cornelia Kallisch verleiht der treuen Haushälterin Brigitta die rechten vokalen und szenischen Konturen.

Ein Opernabend von Sonderformat. Wiener Staatsoper und Salzburger Festspiele wollen 2004 mit einer eigenen Version der "Toten Stadt" Paroli bieten. Man kann ihnen nur viel Glück wünschen.



↑DA CAPO