Das verratene Meer
W. H. Audens Essay »The enchafèd flood«, das Theater Racines und Corneilles, das post-wagnerische Musikdrama und die Psychoanalyse sind wesentliche Inspirationsquellen für diese im modernen Japan angesiedelte Liebestragödie.
Hans Werner Henze
HANDLUNG
Ein Schiffsoffizier der japanischen Handelsmarine verliebt sich in die 33-jährige, ebenso schöne wie wohlhabende Witwe Fukaso, Geschäftsführerin eines exklusiven Modegeschäfts in Yokohama.
Doch Noboru, der jugendliche Sohn Frau Fusakos ist empört. Ihm war der neue Liebhaber seiner Mutter zwar zunächst sympathisch, die Liebesszene der beiden, die er heimlich beobachtet, irritiert ihn wenig. Doch ein Mann, der daran denkt, das Meer zu »verraten«, um seine Mutter heiraten zu können, ist für ihn untragbar. Den Mitgliedern seiner Jugend-Gang ist das Meer heilig. »Gogo no Eiko«, der Roman von Yukio Mishima (1925–1970), Star der japanischen Nachkriegsliteratur (Deutsch »Der Seemann, der die See verriet«) diente Hans Werner Henze als Vorlage für eine seiner faszinierendsten Opern.
Henze - ebenso wie Mishima - kämpft in seinem Werk für Außenseiter, zeigt die Aussichtslosigkeit des verzweifelten Kampfes um Anerkennung, um ein normales Leben.
Die jungen Burschen treiben in der Folge den Offizier mehr und mehr in die Enge - und töten ihn schließlich in einem grausamen Ritualmord - dieses Finale des zweiten Teils der Oper entspricht dem Finale I, in dem das Ritual an einer Katze sozusagen »ausprobiert« wird.
Szenenfolge
Teil I: Sommer
Scene 1 – Fusakos Haus
Scene 2 – Eine verlassene Lagerhalle im Hafen
Scene 3 – Park auf einem Hügel mit Blick aufs Meer
Scene 4 – Fusakos Haus
Scene 5 – Die Lagerhalle
Scene 6 – Der Park
Scene 7 – An der Pier im Hafen
Scene 8 – Die Lagerhalle
Teil II: Winter
Scene 9 – Der Park
Scene 10 – Die Lagerhalle
Scene 11 – Fusakos Haus
Scene 12 – Die Lagerhalle
Scene 13 – Fusakos Boutique
Scene 14 – Die Lagerhalle
DIE AUTOREN
Bemerkenswert ist, daß die beiden Autoren ihre warnende Botschaft aus politisch höchst gegensätzlichen Positionen her aussenden: Henze stand eine Zeitlang den deutschen und italienischen Kommunisten nahe und galt lebenslang als engagierter »Linker«, Mishima war ein ebenso aufmüpfiger Vertreter der ultrakonservativen japanischen
Nationalisten. Er wählte nach einem gescheiterten revisionistischen Putschversuch den rituellen Freitod.
Henzes Charakterisierung
Zum Inhalt schrieb der Komponist:Es handelt sich um eine große Liebestragödie von klassischen, archaischen Ausmaßen. Sie spielt in der Gegenwart, im heutigen modernen Yokohama, unter ganz normalen Leuten wie du und ich, »er« ist Seemann, Schiffsoffizier bei der japanischen Handelsmarine, »sie« ist eine reiche, schöne, junge (wahrscheinlich Krieger-)Witwe. Die beiden verlieben sich natürlicher und middle class gemäßer Weise ineinander. Er will deswegen sogar banalerweise abmustern und sie heiraten – wer aber dagegen ist, intensiv und mit Hass und Verachtung und aus verschiedenen kindlich-pubertären Gründen, das ist Noboru, Madame Fu- sakos halbwüchsiger Sohn. Hieraus entsteht der Konflikt, der noch seine be- sondere Würze dadurch bekommt, daß unser kleiner Gymnasiast einem puerilen, aber ideologisch gemeingefährlichen, aus einer Handvoll über- züchteter und verwöhnter Mustersöhnchen und Klassenkameraden zusammengesetzten Geheimbund angehört, von dem nichts Gescheites und nur das Schlimmste zu erwarten ist.
Es fiel mir auf, dass in der Geschichte von Fusako und Ryuji seltsame Parallelen zu der Mär von Odysseus und Penelope vorzufinden sind – als ob ich nun so ein Heimkehrerdrama ein zweites Mal erzählen müßte, wenn auch diesmal in einer unheroischen, negativen, stark pessimistisch gehaltenen modernen Lesart.
Henze hütet sich aber - wie Mishima - davor, seine Sympathien nur der einen oder andern der handelnden Personen zuzuwenden.
Ich denke, es tut not, sich zu vergegenwärtigen, dass das Stück keine Moral im westlichen Sinn hat. Es geschehen die Dinge schicksalhaft, d.h. wie durch Zufall, wie in der Natur. Wir dürfen nicht richten, dürfen keine christlich-westlichen Kriterien ansetzen. Es wird dargestellt, wie Menschen einander begegnen und was die Konsequenzen der Begegnungen sind. Jede Frau kann sich mit Fusako identifizieren, jeder Mann mit Ryuji, und jeder Mensch mit dem Anfänger, dem es zustößt, im College einen Anführer kennenzulernen und in seine Gang von knabenhaften, fast noch infantilen, altklugen Schulkameraden integriert zu werden. Es ist wichtig, dass diese Jungens wie normale oder besser: überdurchschnittlich begabte „college boys“ sich benehmen, wir müssen sie mögen, wir müssen besonders mit Noboru sympathisieren, der Hauptrolle der Oper. ... Sie sind keine Perversen oder Skinheads oder Rocker, dies sind zarte, verletzte Wesen, deren Spielereien irgendwann einmal, sozusagen durch den Unglücksfall einer zerebralen Mißfunktion hervorgerufen, in tödliche Wirklichkeit umschlagen. Aber sie sind keine Kriminellen. Es stößt ihnen etwas zu. Ein geistiges Abenteuer, das zu weit geht, außer Kontrolle gerät: die Grenzüberschreitung.
DIE MUSIK
Henzes Partitur ist ein Musterbeispiel für die von diesem Komponisten jahrzehntelang kultivierte Polystilistik, die vieles von der sogenannten Postmoderne vorweggenommen hat, aber auch dort, wo sie zwischen avantgardistischen Praktiken und Elementen der Unterhaltungsmusik vermittelt, stets unverwechselbar die Handschrift Henzes trägt.
Wie schon in früheren Werken ordnet er bestimmte Klänge und Klangfarben einzelnen Personen zu:
Madame Fusako gehören die Streichinstrumente und ein spezifisch
»pariserischer« Tonfall.
Den Offizier Ryuji charakterisieren die Bläser, deren Farbspektrum in extreme Regionen von der Kontrabassklarinette bis zum Sopransaxophon ausgeweitet wird. Henze nennt Ryujis Gesangslinien »baritonal, edel, aber durchschnittlich sentimental«.
Noborus Aggressivität charaktierisieren das Schlagwerk und die oft perkussiv eingesetzten Instrumente Klavier, Celesta und Harfe.
Wie schon in den kommentierenden Momenten seiner Oper Venus und Adonis greift Henze in den Szenen der Jugendbande Noborus auf Techniken des Renaissance-Madrigals zurück: Die fünfstimmigen Ensembles der Jugendlichen sind für alle Männerstimmlagen gesetzt: vom Countertenor bis zum Baß. Sie bilden mit scharf geschliffenen, nervös-vielschichtigen Rhythmen den Gegenpol zur schwärmerischen Musik der »Erwachsenen«.
Einen breiteren Stellenwert als gewohnt nehmen in diesem Werk die Kommentare der Handlung durch das große besetzte Orchester ein: Die Zwischenspiele sind oft minutenlang und symbolisieren die Stimme der Natur, des »verratenen Meers«.
Mehr als zuvor denkt Henze wieder in tonalen Strukturen. Grundtöne schimmern durch die großen Bögen seiner Szenen und Verwandlungsmusiken immer wieder durch. Das scheint sich oft schon am Beginn des Kompositionsprozesses zu manifestieren:Fis-Moll oder -Dur wird der Anfang von Szene zwei sein, ganz geblendet von so viel Sonnenlicht, morgens im Hafen von Yokohama, wenn Mama und Sohn den großartigen, hochmodernen Frachter Rakuyo-Maru besichtigen und bei dieser Gelegenheit den 2. Offizier, Ryuji Tsukazaki, kennenlernen.
Die österreichische Erstaufführung der Oper fand als Uraufführung der Neufassung in japanischer Sprache unter dem Titel Gogo No Eiko bei den Salzburger Festspielen statt.
→ ZUR REZENSION
Livemitschnitt der Uraufführung der Zweitfassung Gogo No Eiko von den Salzburger Festspielen (Orfeo)
Die Wiener Staatsoper brachte im Herbst 2020 die erste österreichische szenische Produktion heraus.
Über Das verratene Meer - Vorbericht anläßlich der Erstaufführung an der Staatsoper. (2020)
Mit den Nachwehen der Achtundsechziger-Bewegung hatte sich der deutsche Komponist Hans Werner Henze völlig aus den Opernhäusern und Konzertsälen der Welt zurückgezogen. Er wollte engagierte Musik machen, ging eine Zeit lang nach Kuba und verfaßte, wenn schon, Opern nach Texten von Edward Bond mit sozialkritisch-revolutionärem Inhalt.
Dabei war Henze in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren zum Liebkind des Musik-Establishments geworden: Gegen die musikalische Avantgarde hatte er ebenso revoltiert wie gegen die Vergessens-Unkultur der jungen Bundesrepublik: Er ging nach Italien, wo man freizügiger leben konnte in jenen Jahren. Er schrieb Musik zwischen Neutönerei und der Liebe zu zarten Melodien und schlichter Harmonik.
Damit eckte er bei den Vorreitern der musikalischen Moderne an. Hermann Scherchen, Uraufführungsdirigent seiner zweiten abendfüllenden Oper, König Hirsch, strich ein Drittel der Musik und beschied dem verzweifelten Komponisten: Wir schreiben heute keine Arien mehr!
Die Veranstalter aber freuten sich, de Publikum Novitäten präsentieren zu können, die sie nicht mit roher Dissonanzgewalt sogleich aus den Häusern trieben. Berlin erlebte den von Ingeborg Bachmann getexteten „Jungen Lord“, die Salzburger Festspiele „Die Bassariden“ nach einem Librettto W. H. Audens - und Henze hielt den Zwiespalt nicht mehr aus und sonderte sich weiter ab; beziehungsweise warf sich in die Arme der engagierten Linken.
Doch auch das hatte ein Ablaufdatum: Die Oper Das verratene Meer markierte so etwas wie die Rückkehr des Komponisten ins allgemeine Musikleben. Henze war sich seiner sicher geworden und schrieb einfach nur noch Stücke, auf die er Lust hatte - ohne Rücksicht auf ästhetische Doktrinen oder politische Wegweiser.
Bezeichnend dafür ist, daß die Vorlage zum »verratenen Meer« von einem ausdrücklich der japanischen »Rechten« zuzuordnenden, wenn auch äußerst populären Autor stammt: Yukio Mishima hat sich nach einem von ihm selbst mitorganisierten Putschversuch zur Wiedereinsetzung der absoluten Monarchie 1970 das Leben genommen.
Sein Roman „Gogo No Eiko“ wurde zur Grundlage von Henzes Oper, für deren Stil und Anlage der Komponist ausdrücklich Vorbilder nennt, die weit weg weisen von seiner jüngeren, engagierten Künstlervergangenheit: Ein Essay von Auden, „das Theater Racines und Corneilles“ und, man höre und staune, „das post-wagnerische Musikdrama und die Psychoanalyse“ seien, so Henze „wesentliche Inspirationsquellen für diese im modernen Japan angesiedelte Liebestragödie“ gewesen.
Es war Henze auch wichtig, darauf hinzuweisen, »,daß das Stück keine Moral im westlichen Sinn hat. Es geschehen die Dinge schicksalhaft, d.h. wie durch Zufall, wie in der Natur. Wir dürfen nicht richten, dürfen keine christlich-westlichen Kriterien ansetzen. Es wird dargestellt, wie Menschen einander begegnen und was die Konsequenzen der Begegnungen sind.«
Mit entsprechendem »Abstand« hat man also bei einer Präsentation des Werks an der Wiener Staatsoper die Handlung zu dechiffrieren. Im wesentlich geht es um die rituellen, quasi-religiösen Handlungen einer japanischen Jugend-Gruppe, die es sich zum Ziel macht, ihre Prinzipien gegen Eindringlinge von außen zu verteidigen und die dabei vor dem Äußersten nicht zurückschrecken.
Opfer der Aktion ist Ryuji, Offizier der japanischen Handelsmarine, der sich in die 33-jährige, ebenso schöne wie wohlhabende Witwe Fusako verliebt. Fusakos Sohn Noboru, Mitglied der Jugend-Bande, ist zunächst interessiert an seinem „Stiefvater“, doch als offenbar wird, daß der Offizier seinen Dienst quittiert, um mit Fusako zu leben, ändert sich die Lage schlagartig: Die jungen Burschen sehen in dem Offizier einen Abtrünnigen, der „das Meer verraten“ hat.
Die Geschichte, die Henze zu den Worten seines Librettisten Hans-Ulrich Treichel erzählt, handelt vom langsamen Ablösungsprozess des Burschen, seinen erotischen Beobachtungen bei den nächtlichen Zusammenkünften seiner Mutter mit ihrem Geliebten. Und von der schleichenden Infiltration durch das Gedankengut der jungen Männer, die am Ende des ersten Teils der Oper eine Katze schlachten - was sich zuletzt als Generalprobe für die rituelle Opferung Ryujis entpuppt, mit der der spiegelbildlich zum ersten angelegte zweite Teil der Oper schließt.
In Henzes Charakterisierung der Figuren gibt es nicht Gut, nicht Böse: »Jede Frau kann sich mit Fusako identifizieren, jeder Mann mit Ryuji. Und jeder Mensch mit dem Anfänger, dem es zustößt, im College einen Anführer kennenzulernen und in seine Gang von knabenhaften, fast noch infantilen, altklugen Schulkameraden integriert zu werden.«
Der Komponist möchte keine Verurteilungen vornehmen: »Es ist wichtig, dass diese Jungens wie normale oder besser: überdurchschnittlich begabte ,College boys’ sich benehmen, wir müssen sie mögen, wir müssen besonders mit Noboru sympathisieren, der Hauptrolle der Oper.«
Entsprechen ergeht Henzes Aufforderung an die Regisseure und die Darsteller der Jugend-Bande: »Sie sind keine Perversen oder Skinheads oder Rocker, dies sind zarte, verletzte Wesen, deren Spielereien irgendwann einmal, sozusagen durch den Unglücksfall einer zerebralen Missfunktion hervorgerufen, in tödliche Wirklichkeit umschlagen. Aber sie sind keine Kriminellen. Es stößt ihnen etwas zu. Ein geistiges Abenteuer, das zu weit geht, außer Kontrolle gerät: die Grenzüberschreitung.«
Henzes Partitur ist ein Musterbeispiel für die von diesem Komponisten jahrzehntelang kultivierte Polystilistik, die vieles von der sogenannten Postmoderne vorweggenommen hat, aber auch dort, wo sie zwischen avantgardistischen Praktiken und Elementen der Unterhaltungsmusik vermittelt, stets unverwechselbar die Handschrift Henzes trägt. In den Szenen der Jugendbande Noborus greift der Komponist sogar auf Techniken des Renaissance-Madrigals zurück: Die fünfstimmigen Ensembles der Jugendlichen sind für alle Männerstimmlagen gesetzt: vom Countertenor bis zum Baß. Sie bilden mit scharf geschliffenen, nervös-vielschichtigen Rhythmen den Gegenpol zur schwärmerischen Musik der »Erwachsenen«.
Einen breiteren Stellenwert als gewohnt nehmen in diesem Werk die Kommentare der Handlung durch das große besetzte Orchester ein: Die Zwischenspiele sind oft minutenlang und symbolisieren die Stimme der Natur, des »verratenen Meers«.
Die Wiener Staatsoper brachte im Dezember 2020 die szenische Erstaufführung einer Mischfassung aus Berliner und Salzburger Version in deutscher Sprache mit Vera-Lotte Boecker als Fusako, Josh Lovell als Noboru und Bo Skovhus als Ryuji heraus. Simone Young dirigierte, Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenierten in Bühnenbilddern von Anna Viebrock.
Rezension Das verratene Meer - Erstaufführung an der Staatsoper. (2020)
Man wird uns jetzt allseits wieder vorrechnen, wie spät Wien mit einer solchen Premiere dran ist. Und doch: Es braucht Weile, eine Henze-Oper so klingen zu lassen. Das muß man schon sagen.
30 Jahre ist es her, daß Das verratene Meer in Berlin uraufgeführt wurde. Für den blutjungen Dirigenten Markus Stenz bedeutete diese Einstudierung den Durchbruch. Er galt seither als Kenner und Könner moderner Partituren - und übernahm später auch bei den Salzburger Festspielen die Leitung der Uraufführung von Henzes Upupa vom ursprünglich vorgesehenen Christian Thielemann.
Das war etwa auf halbem Wege zwischen der Berliner Premiere des Verratenen Meers und dessen nunmehrigem Wiener Einstand. Dazwischen liegt die natürliche Verjüngung des Staatsopernorchesters, dessen neue Generation sich mit Stücken wie diesem bedeutend leichter tut als die philharmonischen Altvordern.
Anders als man annehmen möchte, hat man in Wien mit Henzes Meeres-Musik ja schon Erfahrungen gemacht: Ein paar Jahre nach der Uraufführung dirigierte Christoph von Dohnányi im Philharmonischen die Uraufführung eines Werks namens Appassionatamente; und das waren einige der großen, pittoresken Zwischenspiele aus dem Verratenen Meer und die gerieten Sonntag vormittags im Musikverein damals zu einem ziemlichen Durcheinander.
Nun liegen die Klangflächen in den üppig orchestrierten Werken dieses Komponisten gern scheinbar ungeordnet übereinander, wie von einem zeitgenössischen Maler mit der Spachtel aufgetragen. Je später in seiner Biographie desto lustvoller hat Henze die tönenden Bausteine aufeinandergestellt.
Simon Rattle hat ihn einmal gefragt, welches dieser Elemente ihm bei einer bestimmten Passage einer der späten Symphonien ihm denn nun das wichtigste sei; und der Komponist entgegnete nur: Das kann ich dir nicht sagen. Ich liebe sie alle.
Es ist schon so, diese Henzeschen Klangnebel haben etwas Narkotisches, nicht im einschläfernden sondern im aufregend süchtigmachenden Sinn. Und sie sind schon darauf angelegt, auch haltlos ineinander verschwimmen, verfließen zu können - und klingen immer schön. Je nach illustrativer Notwendigkeit beschwören sie wilde, leidenschaftlich erregte oder poetisch zarte, verinnerlichte Bilder. Sie schaffen auch jene verführerische, erotisierende Atmosphäre, die eine prächtige Klangkulisse dafür abgibt, wenn ein Halbwüchsiger seine Mutter, einer wohlhabenden verwitweten Boutique-Besitzerin, beim Liebesspiel mit ihrem neuen Verehrer beobachtet - und dabei die schöne Mama ebenso anziehend findet wie den künftigen Stiefvater.
Um solche Verwirrungen des Zöglings Noboru geht es im „verratenen Meer“ auch. Hinzu kommen die Außenbindungen des Dreizehnjährigen an seine Fünferbande, in der er es gerade einmal bis zur „Nummer drei“ gebracht hat.
Von der „Nummer eins“, Erik Van Heyningen, zynisch-überlegen gegängelt, wollen sich diese jungen Wilden von den lahmen Alten nichts sagen lassen. Sie machen sich ihre Gesetze selbst. An einer jungen Katze üben sie vor, wie man eine Hinrichtung exekutiert. Damit endet der erste Teil der Oper, „Sommer“. Im „Winter“ muß der neue Bräutigam von Noborus Mutter daran glauben. Er hat „die See verraten“, indem er seiner neuen Geliebten zuliebe seinen Beruf als Hochsee-Offizier an den Nagel hängt.
Den Schiffe-Fanatiker Noboru enttäuscht er damit ebenso wie mit seiner freundschaftlich-verzeihenden Reaktion auf die Entdeckung der voyeuristischen nächtlichen Aktivitäten seines Stiefsohns: Hätte er ihm eine Tracht Prügel versetzt, Noboru hätte ihn akzeptiert.
So aber fühlt er sich nicht ernst genommen - daß der »Verräter« zuletzt sterben muß, nachdem er den Jugendlichen auch noch Seemannslieder vorgesungen hat, gehört zu den schwer erträglichen Brutalitäten der Romanvorlage Yukio Mishimas.
Henzes Librettist Hans-Ulrich Treichel hat sie fürs Musiktheater in Form gebracht und ihr einiges an Schärfe genommen. Die Musik könnte nun, apropos narkotische Effekte, das Ihrige dazu tun, den Thriller zum veritablen Melodramma weichzuspülen.
Doch Anno 2020 lesen und spielen die Wiener Musiker Henze genauer, leichter, selbstverständlicher als vor einem Vierteljahrhundert. Also wird aus dem kunstvollen Stimmengewirr nicht das farbenprächtige, aber undifferenzierte Orchestertableau von Anno dazumal.
Unter Simone Young zieht man sämtliche Register rhetorischer Kunst, um die Geschichte vom verratenen Meer mit all ihren Zwischentönen zu erzählen, die nötig sind, um aus den Bühnenfiguren Menschen zu formen, die lieben und hassen, von Angst erfüllt sind, aber nach außen hin ihre Rollen spielen. Die Sympathie des Komponisten gehört jedem einzelnen von ihnen. Er scheidet so wenig wie Mishima in Gut und Böse.
Man konnte das anläßlich der Wiener Staatsopern-Premiere hören, weil sich nicht nur das Orchester dieser Musik mittlerweile mit einer Sicherheit nähert, wie es sonst Richard Strauss spielt: ohne Furcht vor hoher Komplexität und vor allem im Wissen um das, was zwischen den Zeilen gemeint ist.
Auch die neue Sängergeneration geht - bei filmreifer Optik - völlig unverkrampft mit den heiklen Aufgaben um, die ihnen in sämtlichen Stimmregistern vom Sprechgesang bis zur blühenden Belcanto-Kantilene alles abverlangt. Bo Skovhus gibt dem stolzen, inwendig aber unsicheren und mit dem Leben hadernden »Zweiten Offizier« optisch wie vokal das rechte Profil, spinnt schlichtes Seemannsgarn und gibt im Schlafzimmer das »wilde Tier«, von dem der Halbwüchsige Noboru dann leuchtenden Auges berichten kann: Josh Lovell lässt bei dieser Gelegenheit eine herrliche lyrische Tenorstimme hören, die ideal mit dem weichen, ausdrucksvollen Sopran seiner Mutter harmoniert.
Vera-Lotte Boeckers singt Frau Fusako Kuroda so vollendet, dass man in gewisser Hinsicht davon berichten darf, am vergangenen Montag hätte in Wien die eigentliche Uraufführung des verratenen Meers stattgefunden: In Berlin damals war die Hauptdarstellerin heiser, durfte nur spielen und wurde akustisch von einer Kollegin synchronisiert, die aus Noten von der Seitenbühne sang.
Da erklangen des öfteren nur Näherungswerte von dem, was Henze notiert hat. Boecker singt alles mit Hingabe und in ihrem großen Monolog in der vorletzten Szene, der sich als gewaltige, aber herrliche Illusion entpuppt, sogar noch ein paar halsbrecherische Koloraturen, die der Komponist erst für die japanischsprachige Zweitversion seines Werks eingefallen sind. Wien läßt nun eine Mischfassung hören, das beste aus beiden verratenen Meeren.
Und, ehe ich es vergesse, Wien zeigt das Stück auch, denn das Regie-Duo Jossi Wieler & Sergio Morabito läßt alles geschehen, was im Libretto steht, und fügt während der illustrativen Zwischenspiele noch Erklärendes hinzu. Das ist sinnvoll, wenn die Jugendbande ihre Nummer drei bis in die Träume verfolgt, das wirkt etwas Überbestimmt für alle, die auch ohne Bebilderung ahnen, was die leidenschaftlich Klänge bedeuten, die Henze beispielsweise für jenen Moment eingefallen sind, in dem Treichel schrieb: „Ryuji und Fusako schlafen ineinander verschlungen ein“.
In der Berliner Produktion Götz Friedrichs drehten sich damals die Versatzstücke von Hans Hoffers eindrucksvollem Riesenbetonsilo und gaben den Blick auf die folgende Szene frei. In Wien sieht man jetzt ununterbrochen alles, aber die notorische Lust Anna Viebrocks an häßlichen Hinterhofsilhouetten hat in diesem Fall Methode. Die Lichtregie sorgt für die nötigen Stimmungsumschwünge und die Kostüme sind realistisch von der Uniform bis zum Kimono. Also: Das verratene Meer, ganz und gar.
↑DA CAPO