** O P E R

Das verratene Meer

W. H. Audens Essay »The enchafèd flood«, das Theater Racines und Corneilles, das post-wagnerische Musikdrama und die Psychoanalyse sind wesentliche Inspirationsquellen für diese im modernen Japan angesiedelte Liebestragödie.

Hans Werner Henze

HANDLUNG

Ein Schiffsoffizier der japanischen Handelsmarine verliebt sich in die 33-jährige, ebenso schöne wie wohlhabende Witwe Fukaso, Geschäftsführerin eines exklusiven Modegeschäfts in Yokohama.

Doch Noboru, der jugendliche Sohn Frau Fusakos ist empört. Ihm war der neue Liebhaber seiner Mutter zwar zunächst sympathisch, die Liebesszene der beiden, die er heimlich beobachtet, irritiert ihn wenig. Doch ein Mann, der daran denkt, das Meer zu »verraten«, um seine Mutter heiraten zu können, ist für ihn untragbar. Den Mitgliedern seiner Jugend-Gang ist das Meer heilig. »Gogo no Eiko«, der Roman von Yukio Mishima (1925–1970), Star der japanischen Nachkriegsliteratur (Deutsch »Der Seemann, der die See verriet«) diente Hans Werner Henze als Vorlage für eine seiner faszinierendsten Opern.

Henze - ebenso wie Mishima - kämpft in seinem Werk für Außenseiter, zeigt die Aussichtslosigkeit des verzweifelten Kampfes um Anerkennung, um ein normales Leben.
Die jungen Burschen treiben in der Folge den Offizier mehr und mehr in die Enge - und töten ihn schließlich in einem grausamen Ritualmord - dieses Finale des zweiten Teils der Oper entspricht dem Finale I, in dem das Ritual an einer Katze sozusagen »ausprobiert« wird.

Szenenfolge

Teil I: Sommer

Scene 1 – Fusakos Haus

Scene 2 – Eine verlassene Lagerhalle im Hafen

Scene 3 – Park auf einem Hügel mit Blick aufs Meer

Scene 4 – Fusakos Haus

Scene 5 – Die Lagerhalle

Scene 6 – Der Park

Scene 7 – An der Pier im Hafen

Scene 8 – Die Lagerhalle


Teil II: Winter

Scene 9 – Der Park

Scene 10 – Die Lagerhalle

Scene 11 – Fusakos Haus

Scene 12 – Die Lagerhalle

Scene 13 – Fusakos Boutique

Scene 14 – Die Lagerhalle


DIE AUTOREN

Bemerkenswert ist, daß die beiden Autoren ihre warnende Botschaft aus politisch höchst gegensätzlichen Positionen her aussenden: Henze stand eine Zeitlang den deutschen und italienischen Kommunisten nahe und galt lebenslang als engagierter »Linker«, Mishima war ein ebenso aufmüpfiger Vertreter der ultrakonservativen japanischen Nationalisten. Er wählte nach einem gescheiterten revisionistischen Putschversuch den rituellen Freitod.

Henzes Charakterisierung

Zum Inhalt schrieb der Komponist:
Es handelt sich um eine große Liebestragödie von klassischen, archaischen Ausmaßen. Sie spielt in der Gegenwart, im heutigen modernen Yokohama, unter ganz normalen Leuten wie du und ich, »er« ist Seemann, Schiffsoffizier bei der japanischen Handelsmarine, »sie« ist eine reiche, schöne, junge (wahrscheinlich Krieger-)Witwe. Die beiden verlieben sich natürlicher und middle class gemäßer Weise ineinander. Er will deswegen sogar banalerweise abmustern und sie heiraten – wer aber dagegen ist, intensiv und mit Hass und Verachtung und aus verschiedenen kindlich-pubertären Gründen, das ist Noboru, Madame Fu- sakos halbwüchsiger Sohn. Hieraus entsteht der Konflikt, der noch seine be- sondere Würze dadurch bekommt, daß unser kleiner Gymnasiast einem puerilen, aber ideologisch gemeingefährlichen, aus einer Handvoll über- züchteter und verwöhnter Mustersöhnchen und Klassenkameraden zusammengesetzten Geheimbund angehört, von dem nichts Gescheites und nur das Schlimmste zu erwarten ist.
Es fiel mir auf, dass in der Geschichte von Fusako und Ryuji seltsame Parallelen zu der Mär von Odysseus und Penelope vorzufinden sind – als ob ich nun so ein Heimkehrerdrama ein zweites Mal erzählen müßte, wenn auch diesmal in einer unheroischen, negativen, stark pessimistisch gehaltenen modernen Lesart.
Henze hütet sich aber - wie Mishima - davor, seine Sympathien nur der einen oder andern der handelnden Personen zuzuwenden.
Ich denke, es tut not, sich zu vergegenwärtigen, dass das Stück keine Moral im westlichen Sinn hat. Es geschehen die Dinge schicksalhaft, d.h. wie durch Zufall, wie in der Natur. Wir dürfen nicht richten, dürfen keine christlich-westlichen Kriterien ansetzen. Es wird dargestellt, wie Menschen einander begegnen und was die Konsequenzen der Begegnungen sind. Jede Frau kann sich mit Fusako identifizieren, jeder Mann mit Ryuji, und jeder Mensch mit dem Anfänger, dem es zustößt, im College einen Anführer kennenzulernen und in seine Gang von knabenhaften, fast noch infantilen, altklugen Schulkameraden integriert zu werden. Es ist wichtig, dass diese Jungens wie normale oder besser: überdurchschnittlich begabte „college boys“ sich benehmen, wir müssen sie mögen, wir müssen besonders mit Noboru sympathisieren, der Hauptrolle der Oper. ... Sie sind keine Perversen oder Skinheads oder Rocker, dies sind zarte, verletzte Wesen, deren Spielereien irgendwann einmal, sozusagen durch den Unglücksfall einer zerebralen Mißfunktion hervorgerufen, in tödliche Wirklichkeit umschlagen. Aber sie sind keine Kriminellen. Es stößt ihnen etwas zu. Ein geistiges Abenteuer, das zu weit geht, außer Kontrolle gerät: die Grenzüberschreitung.

DIE MUSIK

Henzes Partitur ist ein Musterbeispiel für die von diesem Komponisten jahrzehntelang kultivierte Polystilistik, die vieles von der sogenannten Postmoderne vorweggenommen hat, aber auch dort, wo sie zwischen avantgardistischen Praktiken und Elementen der Unterhaltungsmusik vermittelt, stets unverwechselbar die Handschrift Henzes trägt. Wie schon in früheren Werken ordnet er bestimmte Klänge und Klangfarben einzelnen Personen zu:

Madame Fusako gehören die Streichinstrumente und ein spezifisch »pariserischer« Tonfall.

Den Offizier Ryuji charakterisieren die Bläser, deren Farbspektrum in extreme Regionen von der Kontrabassklarinette bis zum Sopransaxophon ausgeweitet wird. Henze nennt Ryujis Gesangslinien »baritonal, edel, aber durchschnittlich sentimental«.

Noborus Aggressivität charaktierisieren das Schlagwerk und die oft perkussiv eingesetzten Instrumente Klavier, Celesta und Harfe.


Wie schon in den kommentierenden Momenten seiner Oper Venus und Adonis greift Henze in den Szenen der Jugendbande Noborus auf Techniken des Renaissance-Madrigals zurück: Die fünfstimmigen Ensembles der Jugendlichen sind für alle Männerstimmlagen gesetzt: vom Countertenor bis zum Baß. Sie bilden mit scharf geschliffenen, nervös-vielschichtigen Rhythmen den Gegenpol zur schwärmerischen Musik der »Erwachsenen«.

Einen breiteren Stellenwert als gewohnt nehmen in diesem Werk die Kommentare der Handlung durch das große besetzte Orchester ein: Die Zwischenspiele sind oft minutenlang und symbolisieren die Stimme der Natur, des »verratenen Meers«.

Mehr als zuvor denkt Henze wieder in tonalen Strukturen. Grundtöne schimmern durch die großen Bögen seiner Szenen und Verwandlungsmusiken immer wieder durch. Das scheint sich oft schon am Beginn des Kompositionsprozesses zu manifestieren:
Fis-Moll oder -Dur wird der Anfang von Szene zwei sein, ganz geblendet von so viel Sonnenlicht, morgens im Hafen von Yokohama, wenn Mama und Sohn den großartigen, hochmodernen Frachter Rakuyo-Maru besichtigen und bei dieser Gelegenheit den 2. Offizier, Ryuji Tsukazaki, kennenlernen.



Die österreichische Erstaufführung der Oper fand als Uraufführung der Neufassung in japanischer Sprache unter dem Titel Gogo No Eiko bei den Salzburger Festspielen statt.

→ ZUR REZENSION


Livemitschnitt der Uraufführung der Zweitfassung Gogo No Eiko von den Salzburger Festspielen (Orfeo)



Die Wiener Staatsoper brachte im Herbst 2020 die erste österreichische szenische Produktion heraus.

Über Das verratene Meer - Vorbericht anläßlich der Erstaufführung an der Staatsoper. (2020)


Die Wiener Staatsoper brachte im Dezember 2020 die szenische Erstaufführung einer Mischfassung aus Berliner und Salzburger Version in deutscher Sprache mit Vera-Lotte Boecker als Fusako, Josh Lovell als Noboru und Bo Skovhus als Ryuji heraus. Simone Young dirigierte, Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenierten in Bühnenbilddern von Anna Viebrock.

Rezension Das verratene Meer - Erstaufführung an der Staatsoper. (2020)



↑DA CAPO