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König Hirsch

Musik von Hans Werner Henze (1955)

Eine moderne Märchenoper üppigsten Zuschnitts, die erst einmal ungekürzt gespielt wurde.

Die Vertonung einer Vorlage von Carlo Gozzi ist Henzes zweite abendfüllende Oper - und so ganz anders geartet als der Erstling, die »Manon«-Oper Boulevard Solitude. Herrschten dort noch Relikte der seriellen, von Schönbergs Zwölftonmethode inspirierten Kompositionstechnik, wendet sich der Komponist hier einfacheren Formen und Harmonien zu, setzt zwischendurch auch einmal Dreiklänge ein und läßt einfache Lieder singen. Dann wieder rauscht das Orchester groß auf und zaubert die farbigsten, buntesten Klänge zur Illustration des Märchenspiels. Durch die Übersiedlung nach Italien hatte Henze seine Freiheit gewonnen - auch künstlerisch. Er wollte sich keinem Dogma mehr unterordnen.

Das wollten die Zeitgenossen so nicht gelten lassen. König Hirsch kam 1955 in Berlin zur Uraufführung und schon während der Probenphase mußte Henze zur Kenntnis nehmen, daß der Dirigent, der Avantgarde-Vorkämpfer Hermann Scherchen mit dem Rotstift in der Partitur gewütet hatte. Auf des Komponisten Anmerkung, die Weglassung aller Wiederholungen störe die Form der Duette und Arien entgegnete Scherchen

Wir schreiben heute keine Arien mehr.

Die Uraufführung war kein Erfolg. Scherchen hatte das Werk von vier auf knapp unter drei Stunden herunterkgekürzt. Erst Dennis Rusell Davies nahm sich dreißig Jahre später in Stuttgart der gesamten Originalfassung an.

Inzwischen hatte Henze, um seine Musik zu retten, selbst Hand angelegt und eine ihm genehme Kurzfassung unter dem Titel Il re cervo oder: Die Irrfahrten der Wahrheit hergestellt, die er 1963 in Kassel selbst aus der Taufe hob und die in der Folge einige Einstudierungen erlebte - unter anderem sogar höchst erfolgreich durch eine Studenten-Truppe der Grazer Kunst-Universität, die eine CD-Version herstellte.

Die Handlung

Der junge König ist als Naturmensch bei den Tieren des Waldes aufgewachsen. Nun ist er zurückgekehrt und will Brautschau halten, eine Gelegenheit, die der Statthalter, der um seine Stellung fürchtet, nutzen möchte, um die Macht ganz an sich zu reißen. Ein Mädchen, das sich weigert, dem König als mögliche Braut präsentiert zu werden, weil sie sich doch keinem Mann hingeben könne, den sie nicht kenne, dingt er für einen Mordanschlag: Der König sei ein wildes Tier. Doch die Tiere kommen aus dem Wald und decken das Komplott auf. Doch der König ist vertrauensselig, er verliebt sich in das Mädchen, das in dem vorgeblichen »wilden Tier« einen seelenvollen Menschen entdeckt. Als der Statthalter sie des versuchten Mordes anklagt und das Messer, das er ihr zugesteckt hatte, als Beweis anführt, resigniert der König. Er begnadigt das Mädchen, übergibt dem Statthalter aber die Krone - und zieht sich in den Wald zurück.

Der Statthalter plant ein neues Attentat. Diesmal ist der linkische Coltellino der Auserwählte - er soll dem König in den Wald folgen, doch erweist er sich als zu ungeschickt, den Auftrag auszuführen. Im Wald kommt es zu den buntesten Verstrickungen aller Figuren. Auch eine Gruppe von Clowns mischt sich unter die Waldbewohner, enttäuscht, ihre Gala anläßlich der Königskrönung nicht aufführen zu können. Durch einen magischen Spruch verwandelt sich der König in einen weißen Hirschen, um sich vor den Nachstellungen des Statthalters in Sicherheit zu bringen. Die Natur verschließt sich wie eine imaginäre Wand, um ihn vor den Menschen zu schützen.

Nun nimmt der Statthalter durch dieselbe Zauberei die Gestalt des Königs an und festigt als vermeintlich legitimer Herrscher seine Schreckensherrschaft. Als der Hirsch sich der Stadt nähert, fühlt sich das Mädchen magisch von ihm angezogen. Als der Statthalter versucht, das Tier zu töten, erscheint der König wieder an dessen Stelle und macht, bejubelt von seinen befreiten Untertanen, das Mädchen zu seiner Königin. Die Clowns können ihre Festsvorstellung geben...

Die Musik

Henzes Tonsprache verfügt hier wirklich in - vorweggenommenem - postmodernem Geist über alle Möglichkeiten der Opernkomposition vom Barock bis in die Moderne. Die Orchesterbehandlung ist virtuos, schon der Sturm, mit dem der erste Akt anhebt, zieht die Hörer unweigerlich in den Bann des Spiels: Die teilbare Frauensperson Scolatella absolviert eine virtuose Koloraturarie, während sie sich vor dem Unwetter in Sicherheit bringt, um sich für die Brautwahl schön zu machen...

Der Komponist selbst meinte über seine Absichten:

Die Wunder, die in der Legende vom »König Hirsch« vor sich gehen, die Idee der Metamorphose, Gedanken einer Freiheit, die über das Erträgliche hinausgeht, der Tod des Tyrannen, Friede, das alles sind Motive, die dargestellt werden mußten ohne die geringste Verzerrung, ohne Parodie und ohne Tricks. Das Stück ist weder als Märchenoper noch als Traumstück gedacht, auch nicht als eine moderne Commedia dell’arte, wiewohl es von alledem etwas an sich hat. Mit seinem ganz einfachen Titel »Oper« ist angedeutet, welche Disziplin angestrebt wurde. Das von wunderlichen Vorgängen erfüllte Szenarium lenkt anfangs von dem Realismus, der gemeint ist, ab, um dann aber doch am Ende bestärkend auf ihn hinzuwirken.


Bei der Umwandlung des König Hirsch in den Re cervo strich Henze unter anderem die poetische Wanderung des einsamen Hirschen durch die vier Jahreszeiten im Wald - und machte die Musik unter Einziehung der Singstimmen in den Instrumentalklang zu seiner Vierten Symphonie.

↑DA CAPO