Die englische Katze

Libretto: Edward Bond
Uraufführung: Schwetzingen, 1983

Der Komponist berichtet über die Entstehung seines Werks:
Im März 1978 berichtete ich dem Dichter und Stückeschreiber Edward Bond in einem Brief von einer Dramatisierung eines kleinen in der Tier-(besonders Katzen-)welt spielenden Balzac mit dem Titel »Peines de coeur d’une chatte anglaise«, die ich in Paris gesehen und die mir gefallen hatte. ... Schon während der Vorstellung hatte ich begonnen, eine Musik zu hören, die mit Maskeraden, Parabeln, mit dem Stil der Opéra comique des mittleren 19. Jahrhunderts zu tun hatte, eine sinistre, schräge Musik zu einer sinistren, schrägen Geschichte, und so kam es, dass ich an Edward Bond schrieb, mit dem ich in den letzten Jahren schon zweimal gearbeitet und eine Oper und ein Ballett erarbeitet hatte. Bond akzeptierte meinen Vorschlag, versetzte die Handlung vom französischen Directoire in das viktorianische London von 1900 und beschenkte mich freundschaftlich-solidarisch mit einem Buch voller musikalischer Entfaltungsmöglichkeiten.

Musikalische Struktur

Diese »Entfaltungsmöglichkeiten« sah Henze im klassischen Variations-Prinzip, insbesondere in jener Ausprägung, die er in Beethovens Diabellivariationen gefunden hatte und die er nun auf die Bühne übertragen wollte:
Nach und nach werden thematische Zentren zum Leben gebracht, die nun ihrerseits der Veränderung, analog zu den Entwicklungen der Charaktere auf der Bühne, unterworfen werden, mit anderen Entwicklungsgängen, bis sie mit einander in Berührung kommen, neue Konflikte und auch merkwürdige Fusionen hervorrufend. Die Hauptdarsteller und die verschiedenen sozialen Gruppen haben obligate Instrumente zur Seite, deren Spiel, deren Klang dem Hörer das Mitvollziehen dieser Vorgänge erleicherten und immer wieder Hinweise geben will, Lageberichte.

Formal gesehen - auch mit Anleihen an der Belcanto-Tradition und an die klassische »Opera bufa« - scheint Henze sich behutsam einen Weg zurück zu den altgewohnten Musiktheaterformen zu bahnen, die er auf Grund seiner politischen Gesinnung mit Blick auf ein modernes Agitationstheater zuletzt verlassen hatte. Doch wollte er seine offenkundigen politischen Gedanken (noch) nicht ganz verhehlen und versuchte sie zumindest theoretisch mit seiner Musik zur Deckung zu bringen:
Weil ich an die revolutionären Kräfte in den Menschen glaube, ist es eine optimistische Musik, die lachen und weinen will und das hochverehrte Publikum zum Weinen und Lachen erweichen.

Die Handlung

Die Szene in diesem Katzen-Stück wird beherrscht von der wohlhabenden Mrs. Halifax, die gleichwohl nie in Erscheinung tritt. Doch in ihrem Salon treffen sich die Mitglieder der K.G.S.R., der »Königlichen Gesellschaft für den Schutz der Ratten«. Sie sind allesamt überzeugte Vegetarier, unter ihnen Lord Puff, den Mrs. Halifax gern unter die Haube bringen möchte, Puffs Neffe Arnold, der Präsidentschaft der Gesellschaft werden möchte, und Louise, ein kleines Mäuschen, die von der K.G.S.R. adoptiert wurde.

Babette will die Gesellschaft unter die Lupe nehmen. Sie ist die Schwester von Minette, die als Braut für Lord Puff vorgesehen ist, und sie möchte die Gesellschaft unter die Lupe nehmen. Denn ihre Schwester Minette ist als Braut für den Lord ausersehen, ist aber ebenso wie Babette von der Bigotterie dieser Gesellschaft angewidert.
Minette flüchtet aufs Dach des Hauses, wo sie Tom begegnet: Es ist Liebe auf den ersten Blick.

Doch die beiden halten sich mit Gefühlsbezeugungen zurück. Zunächst versucht Minette, Tom für die Ziele der Gesellschaft zu gewinnen. Doch der Dialog wird beobachtet: Arnold plant, sein geheimes Wissen über die neue Verbindung für seine Zwecke nützen. Während der Hochzeitszeremonie versucht er, den Onkel zu töten - doch er Plan scheitert ebenso wie der Versucht, die Heirat Minettes mit Lord Puff durch die Offenbarung des geheimen Stelldicheins auf dem Dach zu vereiteln: Minette wird Lady Puff.

II

Während Minette ihrer Schwester vom schweren ADelsleben berichtet, erscheint Tom, der sich in seiner Verzweiflung zur Marine gemeldet hatte, jedoch vor Auslaufen des Schiffes desertierte. Mitglieder der K.G.S.R. stören den Dialog und übergeben Tom der Polizei.

Tom kann entkommen und mischt sich beim Scheidungsprozess als Verteidiger ins Geschehen. Während seines Plädoyers für Minette fliegt die Maskerade auf. Tom und Minette werden verurteilt. Doch eine Opera-buffa-reife Entdeckung löst - scheinbar - den dramaturgischen Knoten: Der Staatsanwalt entdeckt, daß Tom der verschollene Sohn des auf See verunglückten Lord Fairport ist und dessen Erbe antreten könne. Tom, plätzlich reich und daher auch höchst angesehen bei den Mitgliedern der Gesellschaft.

Einer Verehelichung mit Minette steht nur noch der Plan von Mrs. Halifax entgegen, die Minette in einem Sack verschnürt in der Themse ertränken möchte. Babette und Tom können nichts dagegen machen. Verschnürt im Sack gibt Minette den beiden ihren Segen: Babette und Tom haben sich ineinander verliebt. Tom lehnt das Ansinnen der K.G.S.R. ab, sein Vermögen der Gesellschaft zu stiften. Der Noariatssekretär Luzian ersticht ihn und die Rattenschützer bemächtigen sich des Erbes, das laut Testament Babette zustünde.

Aus dem völligen moralischen Chaos bricht die Maus Louise aus: Sie verläßt die K.G.S.R., um das ihr gemäße Mäuseleben zu leben.

Aufnahme

Die einzige erhältliche Produktion entstand mit dem Parnassus Orchestra in London unter Markus Stenz. Es handelt sich um eine gekürzte Version der Partitur, gesungen von Richard Berkeley-Steele (Lord Puff), Mark Coles (Arnold), Ian Platt (Tom), Louisa Kennedy (Minette) und Gunvor Nilsson (Babette; Der Mond) (Wergo).
Wünschenswert wäre eine Edition des Rundfunk-Livemitschnitts der von Henze selbst dirigierten, ungekürzten Premiere in Schwetzingen mit der deutlich überlegenen Inga Nielsen als Minette.



↑DA CAPO