Egon Wellesz

1885 - 1974

Egon Wellesz?
Er galt schon seinen Zeitgenossen zuallererst als einer der bedeutendsten Musikwissenschaftler. Der große Wiener Kulturpublizist Max Graf nannte ihn
»den größten Kenner orientalischer und speziell byzantinischer Musik« und eine »Autorität ersten Ranges.«

Komponist und Byzantinist

Als Komponist war Wellesz aus der Schule Arnold Schönbergs hervorgegangen. Er war es auch, der die erste Schönberg-Biographie verfasste, die 1920 erschien, als der Lehrer noch nicht einmal seine Methode der »Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« publiziert hatte.

Auch organisatorisch geschickt, stand Wellesz 1922 Pate bei der Gründung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik. Und er wurde als führender Kenner der byzantinischen Musik und Erforscher von deren Notation bald vom Privatdozenten zum Professor an der Universität Wien.

Abnabelung von Schönberg

Als Komponist war Wellesz eigensinnig genug, sich von den strengen Vorgaben Schönbergs abzunabeln. Zunächst trugen seine Werke noch durchaus den Charakter der Weiterentwicklung der spätromantischen Klangsprache, wie der Prospero lehrt, unter neugieriger Beachtung klanglicher Territorien, die der französische Impressionismus erschlossen hatte.

Wie es seine Art war, brachte Wellesz seine diesbezüglichen Erkenntnisse mit wissenschaftlicher Genauigkeit in eine Ordnung, die 1929 ihren Niederschlag in der Veröffentlichung einer zweibändigen Instrumentationslehre fand. Hier registriert er auch die Tendenz zur kammermusikalischen Behandlung des Orchesterklangs:
Man wird hier auch über den Klangcharakter der ganz neuen Musik aufgeklärt,

formulierte der Rezensent in der "Arbeiter Zeitung" anerkennend.

Geborener Dramatiker

Neben dem ausgeprägten Klangsinn eignete Wellesz auch ein untrügliches Gespür für dramatische musikalische Steigerungsbögen. Über den Festlichen Marsch schrieb das Neue Wiener Journal 1931:
Die Klangsteigerung des Werkes ist bedeutend und bietet Gelegenheit zu ungemein kunstvoller, instrumentaler Entfaltung.
Wellesz galt zu diesem Zeitpunkt bereits als einer der führenden Köpfe der zeitgenössischen Musikdramatik. Seine ersten großen Werke waren nicht für den Konzertsaal, sondern für die Opernhäuser bestimmt, die freudig von seinen Angeboten Gebrauch machten.

Alkestis - Bakchantinnen

Die Vertonung von Hugo von Hofmannsthals Euripides-Adaption Alkestis von 1923 ging über etliche deutsche Bühnen, für die 1931 fertiggestellte, vom Komponisten selbst textlich arrangierte Vertonung von Euripides’ Bakchantinnen interessierte sich dann sogar Clemens Krauss, der in seiner Zeit als Direktor der Wiener Staatsoper etliche Novitäten präsentierte.
Das lag im Zeitgeist begründet. „Der Tag“ hatte schon nach der Berliner Premiere der Alkestis signalisiert:
Hoffen wir, dass derartigen Feiern österreichischer Opernkunst unter dem neuen Regime der Wiener Oper auch die Heimat nun nicht länger verschlossen bleibt.

Tatsächlich kündigte Krauss für die Saison 1930/31 neben Jaromir Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer und Ermanno Wolf-Ferraris Vier Grobianen auch die Bakchantinnen als zeitgenössische Premiere an.

Ein Rom-Preis für Wien?

Wellesz, wieder ganz Analytiker, stellt in diesen Tagen Überlegungen an, warum in Paris laut über eine „Verlegung“ des legendären Rom-Preises nach Wien nachgedacht wurde. Rom, so kommentierte der Komponist, hätte die kulturelle Führerschaft insgesamt längst an Paris verloren, doch hätte Wien dank der Arbeit der Wiener Staatsoper eine herausragende Stellung in der Musik. Englische Studenten würden seit Jahren als Stipendiaten nach Wien geschickt und besuchten
Englische Studenten werden seit Jahren als Stipendiaten nach Wien geschickt und besuchen nach meinen persönlichen Erfahrungen wöchentlich nicht weniger als drei- oder viermal die Oper.

Über den »Fortschritt«

Seine Position als Bewahrer der Tradition bei gleichzeitigem wachen Blick für Innovations-Möglichkeiten blieb Wellesz durchwegs treu. Diese Position behielt er auch bei, wenn es darum ging, zu den damals bereits diskutierten Fragen „fortschrittlicher“ Operninszenierungen Stellung zu beziehen: In Sachen Richard Wagners könne eine „dem heutigen Zeitgeist angepasste Inszenierung Ausdruck höchster Bewunderung für Wagner sein“, antwortete er 1930 auf eine Umfrage der „Kölnischen Zeitung“.

Wasser auf die durchaus „antimodernen“ Mühlen des Kritikers der „Neuen Freien Presse“, Julius Korngold, waren hingegen Wellesz’ Aussagen über eine „Pseudokunst unter der Maske des Zeitgeistes“. Korngold zitierte sie genüsslich im Rahmen eines Rundumschlags gegen „zeitgeistige Modernismen“ in der Musik, der in seiner unverhohlenen Polemik insgesamt gewiss nicht das Gefallen des Zitierten gefunden hat.

Mit seinen Bakchantinnen“ stellte sich Wellesz aber jedenfalls gegen die stilisierten, kühlen Antiken-Anverwandlungen großer Zeitgenossen: Im Gegensatz etwa zu Igor Strawinskys Oedipus Rex sollte seine Oper „leidenschaftliches, musikalisches Theater großen Stils“ werden. Die Premiere wurde mit Spannung erwartet. Paul Stefan meinte in der „Stunde“:
Wien hatte freilich an Wellesz bis zum heutigen Tage allerhand gutzumachen. 40 deutsche Bühnen spielten seine Werke - die zwei Wiener Operntheater nicht.
Nun mußten zwar am Vorabend der Staatsopern-Premiere wegen Erkrankung die Partien des Dionysos und der Ino umbesetzt werden. Und doch hatte der Traditionalst Julius Korngold zähneknirschend von „wohlgesinntem, reichem, fast bakchantischem Premierenbeifall“ zu berichten. Wellesz’ Musik schien Korngold in ihrer
Melodik dürftig und kurzatmig, strebendem Kunstverstande abgerungen.
Der Moderne-Skeptiker bemüht sogar den Vergleich mit dem Wozzeck, den Clemens Krauss - wild umfehdet - ein Jahr zuvor in Wien zur Erstaufführung gebracht hatte:
wie ja Alban Berg überhaupt der weit spontanere und eigentümlichere, auch technisch überlegene Musiker ist ...


Immerhin gab es Lob für die „mit Liebe und Sorgfalt gearbeiteten“ Chöre, die alle Ausführenden vor heikle Aufgaben stellten:
Aber je schwieriger, je häkliger die Aufgabe, desto intensiver wirft sich ja Clemens Krauss auf das Studium.
Ein Jahr darauf saßen Dirigent und Komponist an der Seite von Alban Berg, Anton von Webern, Ernst Krenek und Franz Schmidt in der Jury, die den erstmals ausgeschriebenen Emil-Hertzka-Kompositionspreis zu vergeben hatte. Zu dieser Zeit erhält Wellesz das Dekret der Verleihung des Ehrendoktorats der Universität Oxford, einer Institution, die für ihn wenig später zum Ort der Zuflucht werden sollte. In Oxford sollte Wellesz nach seiner Vertreibung aus Österreich eine neue Heimat finden.

Prosperos Beschwörungen

Der Schicksalsschlag trifft Wellesz quasi am Höhepunkt seiner Wiener Komponisten-Karriere. Nach Clemens Krauss, der 1934 als Opernchef nach Berlin gewechselt war, war Bruno Walter der führende Dirigent in der Stadt. Und er nahm für ein philharmonisches Abonnementkonzert Wellesz’ erstes großes Orchesterwerk ins Programm: Prosperos Beschwörungen wurden zu einem Sensationserfolg, „gezeichnet in allen Farben moderner Orchestertechnik“, hieß es in einer Rezension, dank einer
vermittelnden Haltung, die sie befähigt, impressionistische und modernistische Anregungen mit Richard Strauss'schem Farbenspiel oder mit der Diatonik Gustav Mahlers - zumal in dem sanft verklingenden Schluss-Satz - taktvoll zu verbinden.

Das Ende Österreichs

Das war Ende Februar 1938.
Die Uraufführung des Werks im Großen Musikvereinssaal markierte - freilich ganz und gar ungeplant - einen der entscheidenden Wendepunkte in der Geschichte, nicht nur der Musikgeschichte Österreichs. Wenige Wochen später war Österreich Geschichte, waren Walter und Wellesz in Wien nicht mehr erwünscht. Der Dirigent setzte kurz darauf bei einem Gastspiel in Amsterdam seinen Willen durch und ließ Richard Strauss Tod und Verklärung durch Prosperos Beschwörungen ersetzen. Doch wurde es bald auch außerhalb des deutschen Sprachraums still um einen Komponisten, den die nächstjüngere Generation vor allem als Musikwissenschaftler mit Sitz in Oxford würdigte.

Exil in England

Bemühungen, Wellesz nach 1945 wieder an seine Heimat zu binden, fielen recht halbherzig aus. Der Komponist blieb in England, reiste aber wiederholt zu Vorträgen und Erstaufführungen nach Salzburg und Wien, wo sich vor allem Herbert Vogg, der Verlagsleiter des Hauses Doblinger eifrig um seine Betreuung kümmerte. Zwischen Vogg und Wellesz entspann sich bald ein Briefwechsel, der viel über Wellesz’ Schaffensprozess verrät. Immer wieder produzierte der Komponist neue Werke nach längeren Pausen in Windeseile.

Eruptives Schaffen

Wie diese Schaffens-Eruptionen zugingen, erfährt man aus einem Brief vom Jänner 1966, in dem es heißt:
Am 6. und 7. war ich nervös und am 8. spät abends begann ich den I. Satz eines Streichquartetts, den ich gestern am 11. beendete. Es wird ein kurzes, aber sehr leidenschaftliches Werk.
Zauberhaft Voggs Antwort:
Ich möchte Sie herzlich bitten, des öfteren nervös zu sein und im Anschluss daran leidenschaftliche Streichquartette zu komponieren.
Dieser Brieffreundschaft entsprangen in den letzten sechs Schaffensjahren von Egon Wellesz unter anderem vier Symphonien! Und nicht zuletzt der Erstdruck von Prosperos Beschwörungen sowie die Initialzündung zu den ersten Wiederaufführungen, die der Komponist mit den Worten anregte:
ich glaube selbst, daß es ein sehr bedeutsames Werk ist, und daß die Partitur recht ungewöhnlich ist.




↑DA CAPO