Edgar Varèse

1883 - 1965

Edgar Varèse galt bereits in jungen Jahren als interessanter Kopf unter den Komponisten seiner Zeit. Hugo von Hofmannsthal wurde auf den jungen Mann aufmerksam gemacht und enmpfahl ihn an Richard Strauss, mit dem Verèse in seiner Berliner Zeit tatsächlich in Kontakt stand, wenn er ihn damals auch nicht mehr als Vorbild in Sachen musikalischen Frotschritts empfinden konnte. Hofmannsthals Drama Œdipus und die Sphinx diente Varèse als Vorlage für ein Opern-Projekt, das nicht über das Skizzenstadium hinauskam.

Ein eigensinniges Talent

Jedenfalls redete man früh von dem Künstler, der sich als einer der großen Querköpfe der Neuen Musik entpuppen sollte und eine ganz eigene, unverwechselbare Sprache entwickelte.

In die Weige gelegt war ihm diese Karriere nicht. Der Vater wollte einen Ingenieur aus ihm machen und ließ ihn in Turin technische Studien absolvieren. Doch den Sohn zog es nach Paris, wo er unter anderem bei Charles M. Widor und Albert Rousell studierte.

In Berlin kam Varèse dann unter den Einfluß Ferruccio Busonis und war vor allem von dessen fantasievollen Thesen möglicher Eroberungen musikalischen Neulands fasziniert.

Jedem Werk seine eigene Form

Wie kaum ein Zweiter realisierte Varèse das Einmaligkeitsgebot der musikalischen Avantgarde und entwickelte für jedes seiner Werke eine eigene Formensprache. Diese Eigenwilligkeit machte ihn für den Konzertbetrieb zunächst suspekt - im ersten Weltkrieg gingen dann etliche Partituren früher Werke Varèses (unter anderem ein Opernvesuch des Teenagers) in Berlin verloren.
Erst nach seiner Übersiedlung in die USA, dank etlicher Aufführungen im Rahmen der Aktivitäten der von ihm mitbegründeten Komponistenvereingiung ICG wendete sich das Blatt und die interessierte Musikwelt erkannte in ihm eine der originellsten, fantasievollsten Figuren der Moderne.

1922 gründete Varèse bei einem Aufenthalt in Paris eine ähnliche Komponisten-Vereinigung im Verein mit Ferruccio Busoni für Europa.

Reiche Zwanzigerjahre

In den Zwanzigerjahren erreichte Vareses Produktivität denn auch einen Höhepunkt. In Wahrheit sind fast alle seine bedeutenden Kompositionen damals entstanden. Niemand Geringerer als der allem Neuen gegenüber aufgeschlossene Dirigenten-Star Leopold Stokowski nahm sich zunächst im Jahr 1924 Varèses Hperprism an und brachte dann zwei großer Partituren Varèses in Philadelphia zur Uraufführung: 1926 Ameriques (1921) und im Jahr darauf Arcana (1926).

in der Folge schuf Varèse mit Offrandes, Octandre und Integrates die mit dem schon genannten Hyperprism zentralen Stücke seines CEuvres. Sie sind alle bedeutend bescheidener besetzt als Ameriques, die ein Riesenorchester vorsehen, das noch in der reduzierten Fassung von 1927 fünffache Holzbläser und einen gigantischen Schlagzeug-Apparat vorsehen. Doch zeigt sich bereits in den beiden groß besetzten Orchesterkompositionen Vareses Sinn für immer neu und raffiniert abgemischte Klangfarben, die selten das gesamte Orchester vorsehen, sondern die erstaunlichsten Mixturen unterschiedlicher Instrumente.

In Hyperprism und Integrales verzichtet Varese dann auf Streicher und mischt Bläserfarben mit Schlagzeugeffekten völlig neuartig ab. KLang und Klangfarbe werden - wie etwa auch im Farben-Stück von Arnold Schönbergs etwas früher entstandenen Orchesterstücken zu formal essentiellen Bestandteilen der Kompositionsstruktur. Wobei für Varese die Grenze zwischen Klang und Geräusch zu verschwimmen scheint, wodurch sich reichere Möglichkeiten als je zuvor ergeben, zu deren Realisierung auch Blasinstrumente auf ungewöhnliche Weise bedient werden, um teils unerhörte Klänge zu produzieren - Varese kommt hier die Vorreiterschaft zu, Spieltechniken, die spätere Generationen verwenden, erstmals angedacht zu haben.

Musikalischer Surrealismus

Die Gedichtvorlagen, die Varese für die beiden Lieder der Offrandes (1921) verwendet, sagen viel über seine künstlerischen Intentionen aus: Sowol Vicente Huidobros als auch Jose Juan Tablada Verse gehören dem Surrealismus an - entsprechend surreal sollte die Musik dann auch klingen, was den Verzicht auf eine spezifische Melodik oder auch gewohnte rhythmische Strukturen erklärt und dank der Dichtungen auch für den Zuhörer verständlich werden läßt.

Vexierspiele

Entsprechend diesem ästhetischen Konzept gelingt es Varese immer wieder auch, klassische musikalische Elemente in seiner Musik zur Zeichensetzung zu nutzen: In Integrales gibt es Augenblicke, in denen die avantgardistische Machart der Musik mit ihren scheinbar orientierungslos schwebenden Klangflächen jäh durch melodische Elemente »unterbrochen« werden, was geradezu als Störung empfunden werden kann. So wird das Althergebachte zum befremdlichen Außenseiter - aber nur im Empfinden des Hörers, denn analytisch betrachtet, haben die so scheinbar heterogen nebeneinanderstehenden Teile der Komposition viel miteinander gemein.

Emanzipation des Geräuschs

Einen frühen Höhepunkt in der Einbindung des Geräuschs in kompositorische Strukturen erreichte Edgard Varese mit seinem 1931 in Paris fertiggestellten Werk Ionisation, das 1933 in New York erstmals gespielt wurde - hier beschäftigt er ausschließlich Schlagzeuger, die neben 36 verschidenen Instrumenten auch zwei Sirenen und ein Klavier zu »bedienen« haben. Das Klavier steuert im übrigen neben den Glocken und dem Glockenspiel die einzigen Töne des Werks bei, die klare Tonhöhen erkennen lassen. Daß ausgerechnet Ionisation Verwandtschaften mit klassischen Formprinzipien - konkret mit der Sonatensatzform - erkennen läßt, haben Analytiker dem Komponisten, der im übrigen von Werk zu Werk neue, immer einzigartige architektonische Entwürfe vorgelegt hat, kritisch vorgehalten.

Varese selbst bekannte 1959:
Form ist ein Ergebnis - das Ergebnis eines Prozesses. Jede meiner Arbeiten findet ihre eigenen Fonn. Ich hätte sie nie in eines der klassischen Formmuster einbauen können ... Eine Idee, die Grundlage einer inneren Struktur, wird ausgebaut und in verschiedene Formen oder Klanggruppen unterteilt, die sich ständig in Form, Richtung und Geschwindigkeit ändern, von diversen Kräften angezogen und abgestoßen. Die Form eines Werks ergibt sich aus dieser Interaktion. Mögliche musikalische Formen sind so grenzenlos wie die äußeren Formen von Kristallen.


Aufnahmen

Pierre Boulez hat etliche von Vareses Werken akkurat zum Klingen gebracht, vor allem die New Yorker Einspielungen der kleiner besetzten Stücke lassen heute nach wie vor fühlen, wie bahnbrechend diese Musik einst gewirkt haben muß.

Eine atemberaubende Wiedergabe von Arcana gelang dem Komponisten-Dirigenten Jean Martinon in seiner kurzen Zeit als Chefdirigent von Chicago Symphony - ein Meilenstein in der Schallplattengeschichte.

↑DA CAPO

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