Steve Reich

Der Komponist als Höhlenforscher
Ein Gespräch

27. April 1993
"The Cave" heißt das große Musiktheater-Projekt, das Steve Reich im Verein mit der Video-Künstlerin Beryl Corot bei den Wiener Festwochen zur Uraufführung bringt: Damit hat zum erstenmal eine wirklich groß angelegte Performance der mittlerweile schon "historisch" gewordenen "Minimal Music" in Wien Premiere.

Steve Reich ist neben Phil Glass und Terry Riley der wohl prominenteste Vertreter dieser eigenwilligen, meist nur wenige simple Floskeln vielfach verschachtelt und in einfachsten Harmonien gegeneinander ausspielenden Komponier-Gattung, die sich gekonnt im schwammigen Bereich zwischen "E" und "U" angesiedelt hat.

Dieser "American Way of Modern Music" fußt, wie Reich das im "Presse"-Gespräch erklärt, zumindest für seinen Bereich vor allem auf der vorklassischen Tradition. Reich favorisiert die Musik von der Frühzeit der polyphonen Verarbeitung gregorianischer Gesänge (Leonin, Perotin, Machault) bis hin zu Bach. "Dann erst wieder Debussy und Satie", sagt Reich, der auf die Frage ob er nicht auch Verdi zwischendurch gern höre ein dezidiertes, langzogenes "No" hören läßt und dazu ein Gesicht macht, als empfände er den Belcanto und seine Abkömmlinge als ärgste aller musikalischen Zumutungen. Im übrigen seien die Amerikaner ja mit dem Jazz aufgewachsen und der hätte mehr mit Bach als mit Mozart zu tun.

Er selbst hat mit seiner Musik eine Art "Mikropolyphonie" entwickelt, die auf kleinstem Raum tatsächlich erstaunliche kontrapunktische Kunststücke verwirklicht, freilich unter ganz anderen, für das Ohr simpler, vielleicht sogar als tranceartig einfach zu empfindenden harmonischen Voraussetzungen als die Musik der "Vorgänger".

In welcher Tonart singt man in der Dusche?

Für sein Festwochen-Stück, das mit demselben Team auch noch in sechs weiteren Städten zwischen Amsterdam und New York gezeigt wird, greift der Komponist freilich auch auf andere als die gewohnten repetitiven Techniken zurück - "ich mag die Wiederholungen", sagt er, "aber ich mag mich nicht wiederholen."

Wie weiland Leo Janaek versucht er, die Melodie der menschlichen Sprache zu ergründen. "Ich höre zu und versuche dann, die Tonhöhen eines Satzes, den mein gegenüber spricht, in Notenschrift festzuhalten. Dort, wo mir die Kombination von Aussage und Sprachmelodie interessant genug erscheint, greife ich zu und speichere das Ergebnis im Computer ab."
Die dieserart entstandene Sammlung an "gesampelten" Sprach-Klängen montiert Reich nun zu seiner Komposition. Dabei kommt es naturgemäß zu ganz neuen harmonischen Abenteuern. Die eigenwillige, vielfältige Struktur der Sprechmelodien zwingt zu ungewohnten Harmonie- und Tempowechseln.

Reich ortet nach seiner Beschäftigung mit solchen "Naturklängen" auch Effekte wie eine Wechselwirkung zwischen dem jeweiligen Raum und dem "musikalischen Verhalten" eines Menschen: "Sie merken, auch wenn sie gar nicht daran denken, automatisch, welche Tonarten in einem bestimmten Raum sozusagen gut klingen. Deshalb singen zum Beispiel in ein und derselben Dusche die meisten Menschen automatisch in derselben Tonart."

Diesen Effekt konnte Reich auch am Originalschauplatz seines musiktheatralischen Spektakels "The Cave" feststellen, das am 15. Mai im Messepalast zur Uraufführung kommt.
"The Cave" ist die Höhle von Machpelah in Hebron, wo sich laut moslemischer und jüdischer Überlieferung die Grabstätte von Abraham befindet. "Dort beten die Menschen in e-Moll", meint Reich.

Sein Stück hat nichts als die Frage "Wer war Abraham?" zum Inhalt, die an Menschen verschiedener Religionsgemeinschaften und Regionen gestellt wird. Dementsprechend enden die ersten beiden "Akte" des Stückes, in denen die Frage an israelische Juden und palästinensische Moslems gestellt wird - also an mit der Kultstätte unmittelbar konfrontierte Menschen - in e-Moll.
Der dritte Akt spiegelt die Antworten amerikanischer Bürger wieder, deren erste Reaktion auf die Frage "Wer war Abraham" des öfteren die Gegenfrage "Abraham Lincoln?" lautete. Dementsprechend weit entfernt, moduliert dieser Teil der Komposition nach C.

Reich hat für den dokumentarischen Charakter des Werkes, in dem der Anteil der Videokomposition von Beryl Korot, also der optische Part, ebenso bedeutenden Stellenwert einnimmt wie der akustische, einen medialen Vergleich parat: "Die ersten beiden Akte schauen Sie sozusagen CNN, den dritten auf sich selbst". Der amerikanische Teil scheint denn auch der bewegteste, bunteste geworden zu sein, denn in den USA leben, so formuliert Reich das, "Menschen, die die christlichjüdische Tradition schon vollständig hinter sich gelassen haben, und solche, in denen sie noch lebendig geblieben ist."

Wohingegen den ersten beiden Abschnitten durchaus "politische" Bedeutung zukomme: "Immerhin fußen sowohl die jüdische also auch die moslemische Tradition auf denselben Wurzeln", stellt Reich fest, womit "The Cave" angesichts der Konflikte in und um Israel durchaus Zündstoff enthalten könnte (15. bis 18. Mai in der Halle E des Wiener Messepalastes).


↑DA CAPO