Selbstvergessene Musik

Inneres nach außen gekehrt zum offenen Kunstwerk

4. Juni 1992
"Hyperion" nach Hölderlin und Bruno Maderna im Theater an der Wien.
Ein Anstoß


Wenn man sehr viel Geld hat, darf man sich so etwas leisten. Einen Schauspieler wie Bruno Ganz zu engagieren, um ihn zwei, drei Hölderlin-Fragmente sprechen zu lassen, eine fulminante Sängerin, einen sensationellen Chor, gute Instrumentalisten, ein Orchester und einen Dirigenten, zudem alles aufzubauen, was man für eine Theaterkulisse braucht, und darin dann - nicht Theater zu spielen.

Die Wiener Festwochen haben Geld genug, sie produzierten mit dem Pariser Festival d'Automne Hyperion nach Hölderlin von Bruno Maderna. Oder auch: nach Bruno Maderna. Denn ein Stück namens Hyperion findet sich im Schaffenskatalog des Frühverstorbenen nicht. Dafür manches, was den Hölderlinschen Traum weiterträumt, was Gefühlswelten, die da sprachliche Gerüste zur Artikulation gefunden haben, in Tönen Raum verschafft. So rätselhaft, vieldeutig wie Hölderlins in Briefform gegossene Selbstbespiegelung tönen Madernas introvertierte Klangbotschaften; als gelangten sie so zufällig, so irrtümlich ans Ohr eines Hörers, wie Hyperions Selbstzweifel und Euphorien den Leser angehen.

Doppelt verrätselt

Solch doppelt verrätseltes Traumspiel mit einer Bühnenvision zu ummänteln, ihm ein Refugium zu verschaffen, auf daß es eine Form finde, sich mitzuteilen, scheint den Prozeß der paradox nach außen gekehrten Introversion Hölderlins mit anderen Mitteln zu rekapitulieren. Und ein weiterer Versuch, das "offene Kunstwerk", von dem Madernas Generation träumte, Realität werden zu lassen.

Nur: Klaus Michael Grüber und Gilles Aillaud verzichten darauf, der dichterischen und der musikantischen Verschleierung eine dritte, die theatralische überzuwerfen. Sie geben uns Bilder, sparsam angedeutetes Felsengeklüft und einen weiten Horziont, Hölderins Wahn-Griechenland vielleicht, und begnügen sich, Bruno Ganz für Hölderlins Sprachgewalt, dem Flötisten Jacques Zorn und der Sopranistin Penelope Walmsley Clark für Madernas poetische Tongespinste freien Raum zu verschaffen.

Nicht-Theater öffnet Ohren

Solches Nicht-Theater öffnet die Ohren. Für die schönste deutsche Wortsymphonie, weil Bruno Ganz unpathetisch und noch den kompliziertesten Satzverlauf klar aufschlüsselnd Hölderlin spricht; für zarte, filigrane, klangsinnliche Musik, weil die etwa die Sopranistin Maderna mit einer Hingabe und einem Nuancenreichtum singt wie andere Puccini-Arien. Unterstützt wird Penelope Walmsley-Clark vom sogenannten Ensemble Asko unter dem souveränen Peter Eötvös, der von seinen Musikern das nämliche Engagement im Instrumentalen verlangt - und so erweist, wie lustvoll der Avantgardist Maderna, ganz Italiener, sich den feinsten Klangreizen hingab, vom Mandolinengezirpe bis zum leise hingetupften Glockenklang; Musik der zarten Seelenregungen, die freilich desselben interpretatorischen Nachdrucks bedürfen wie die emphatischste veristische Liebeserklärung.

Dazu der Chor, das Ensemble Vocal Les Jeunes Solistes, eine Vereinigung, die die schwebende Vertonung des "Schicksalsliedes" in geradezu ätherisch schöne Töne auflöste! Dies alles als Rechtfertigung dafür, einen sträflich unterschätzten Komponisten hören zu dürfen, ermöglichten uns die Festwochen, indem sie ein Bühnenbild bauen ließen und einem etwa zehnköpfigen Produktionsteam erlaubten, darin nicht zu inszenieren. Das hat also schon auch sein Gutes.

Auch wenn manch einer türenknallend das Theater verlassen hat, manch anderer vielleicht selig entschlummert ist. Ein paar Damen und Herren blättern vielleicht dieser Tage wieder in einem Hölderlin-Band und lesen wenn schon nicht den "Hyperion", so doch vielleicht die "Hälfte des Lebens". Das, so viel ist sicher, wird ihnen Gewinn bringen.




↑DA CAPO