Was, wenn die Musik des 21. Jahrhunderts Biß hat, aber nicht verbissen klingt?
Zur Uraufführung von Kurt Schwertsiks Zeit-Wind, Stern-Zeit. Eine Taschenkosmogonie
Jänner 2001
Frage: Wie steht es um die neue Musik? Antwort: Seit die Komponisten begriffen haben, daß sie nicht um jeden Preis das Rad neu erfinden müssen, geht es ihr wieder ziemlich gut.
Beweis: Die jüngste Uraufführung einer Komposition aus der Feder eines österreichischen Zeitgenossen im Musikverein.
Die Wiener Symphoniker hoben unter Leopold Hagers Leitung zwar recht pauschaliter musiziert, aber doch eindrucksvoll Kurt Schwertsiks Opus 83, „Zeit-Wind, Stern-Zeit. Eine Taschenkosmogonie” aus der Taufe. Das verlief zur spürbaren Freude des Publikums, was man heutzutage unbedingt dazusagen muß, denn das Publikum fühlt sich ja meist schon von Aufführungen etlicher älterer Werke des vorigen Jahrhunderts eher auf den Schlips getreten den erfreut.
Hie und da geschieht es, daß sich das Auditorium „angenehm überrascht” zeigt. Über das Stadium der aus Funk- und Fernsehwerbung bekannten Zahnarzt-Bewertung: „Mami, er hat überhaupt nicht gebohrt", kommt die kritische Stellungnahme jedoch kaum je hinaus.
Kurt Schwertsik ist nun einer, der niemals „überhaupt nicht bohrt". Er bohrt ganz ordentlich, aber in dem Sinn, wie alle guten Komponisten vor ihm das auch schon immer getan haben. Nähme etwa die Entwicklung des Adagios aus Bruckners Achter nicht die sprichwörtlich bohrende Intensität an, wir wären ganz schön irritiert. – In diesem Sinne darf ich also bekennen: Ich hätte mir gewünscht, daß die Symphoniker unter Leopold Hager viel intensiver, also auch: bedeutend differenzierter ans neue Werk gegangen wären. Dann hätte man noch vielmehr von Schwertsiks legitimen Bohrversuchen mitbekommen.
Immerhin so viel darf ich sagen: Einen schöneren langsamen Satz wird das 21. Jahrhundert, das mit Schwertsik ziemlich gut angefangen hat, wahrscheinlich längere Zeit nicht mehr hervorbringen. Wie könnte das klingen, was wäre das für ein virtuoses Orchester und seinen Maestro für eine Aufgabe, wenn dieser Komponist da seinen Blick in den Sternenhimmel in Klänge umsetzt. Der zweite Satz von Schwertsik symphonischem Neuling wächst tatsächlich aus einem schier unendlichen Dreiklangsraum heraus, in dem sich die Harmonien ganz sanft ineinander verschieben. So weit sind die Töne in puncto Lage oder Klangfarbe voneinander gesondert, daß sie sich wirklich und wahrhaftig wie Planeten ungestört aneinander vorbei bewegen, einen Raum auftuend, in dem sich, mehr und mehr verdichtend, Skalen tummeln, ineinander verschlingen.
Was zunächst wirkt, als ob die Anfänge von Wagners „Rheingold” und Straussens „Alpensymphonie” gleichzeitig erklingen wollten, verschmilzt bald zum ganz und gar neuen Tongemälde. Dessen Wirkung könnte überwältigend sein und war unter Leopold Hager schon beinahe beeindruckend.
Jedenfalls wissen wir jetzt bestimmt, daß es keiner großen revolutionären Geste bedarf, um mit althergebrachten Mitteln doch neue Effekte hervorzubringen. Und daß es Spaß machen kann, zu verfolgen, wie ein Komponist unserer Zeit im dritten Satz raffiniert wie weiland Paul Hindemith einen kecken, kichernden Bläsersatz mit einem frommen (ein Bach-Zitat kommt nicht von ungefähr) Streicherchoral verschwistert, als ob er zeigen wollte, daß Gut und Böse alles eins sei. Kraftvoll wie schon in den älteren „Baumgesängen” gebietet Schwertsik auch in den Ecksätzen über den Orchesterapparat, den er massiv einsetzt, um saftigen, deftigen Klang zu produzieren.
Da und dort verrückt er die immer faßlichen Harmonien um einen Halbton, um neue Energien freizusetzen und, wie das schon große Vorbilder getan haben, das Publikum ein wenig in seinen Sitzen rücken zu machen; zur Vorbereitung des großen Applauses, den diese verschmitzte, doch alles andere als taschenformatige „Taschenkosmogonie” allerdings auf Staccatopunkt und Bindebogen verdient hat.
Und jetzt: Ab damit ins Repertoire! Schwertsiks Stück ist geeignet, allerlei Vorurteile über die Musik des 20. Jahrhunderts auszuräumen; oder noch besser: solche über die des 21. gar nicht erst aufkommen zu lassen. Man wünscht sich zu diesem Behufe die Aufnahme der Komposition (und ausgewählter vergleichbarer Stücke, die es auch gibt und die eine gute Dramaturgie etwa für „Wien modern” einmal zusammensuchen sollte) in sämtliche Spielpläne. Reden wir nicht von Repertoireverödung. Tun wir was dagegen. Was wäre das doch für eine Lust, wenn große Dirigenten zwischen Cleveland und Moskau für ein Jahr Mahler ad acta legten und um die Wette Schwertsik dirigierten!