Charles Ives

1874 - 1954

Wenn es so etwas wie einen »typisch amerikanischen« Komponisten gegeben hat, dann war das Charles Ives. Leben und Schaffen des Sohnes eines Militär-Kapellmeisters nehmen sich aus wie eine kühne Vorwegnahme der Freiheiten der sogenannten Postmoderne.

Aus allen Windrichtungen

Symptomatisch für den künstlerischen Freiheitsdrang des Hobbykomponisten, der als Versicherungs-Makler sein Geld verdiente, ist die Sammlung seiner 114 Lieder, die er 1922 publizierte. Im Nachwort meint er:
Ich habe lediglich mein Arbeitszimmer augeräumt. Alles, was übrig blieb, hängt nun an der Wäscheleine, denn es befriedigt durchaus die Eitelkeit des Menschen, wenn die Nachbarn einmal etwas von ihm zu sehen bekommen.
Entsprechend kunterbunt ist die Mischung, die die »Nachbarn« nun vorfinden: da stehen romantische Gedichtvertonungen neben grell dissonierenden, scheinbar spontan hingeworfenen Improvisationen, Märsche neben Cowboy-Gesängen, geistliche Lieder neben Avantgarde-Experimenten.

Ives verarbeitete die Einflüsse seiner Studien an der Ysale-University - unter anderem bei Salomon Judassohn, der ihm die deutsche Romantik nahebrachte - ebenso wie die Geräuschkulisse, die ihn im amerikanischen Alltag umgab.

Ein Lied, so schrieb er, das müsse nicht sklavischen Formgesetzen gehorchen. Schließlich könne der Durchschnittsbürger ja auch »einmal Lust haben, auf der falschen Straßenseite zu gehen«. Oder anders formuliert:
- kurz und bündig: Muß ein Lied immer ein Lied sein?


Collage-artige Spontaneität ist Ives Schaffen insgesamt eigen. Frei von finanziellen Sorgen, konnte der Hobby-Komponist alle formalen und harmonischen Vorstellungen über den Haufen werfen und wie ein Kind mit den ererbten Parametern spielen. Mehr und mehr bedient sich Ives einer anarchischen Ästhetik, die willkürlich Gesetze bricht und experimentell mit den Bauteilen klassischer Formmuster spielt oder sie durch Einschübe, bewusste »Störaktionen« kühne Überlagerungen entfremdet, der jeweiligen poetischen Idee entsprechend.

Die oft scheinbar willkürlichen Schichtungen nehmen in der Vierten Symphonie so extreme Formen an, daß Dirigent Seiji Ozawa angesichts der Partitur - und der Erfordernis eines Subdirigenten - einmal gemeint hat:
Da hilft nur beten!


Jegliche Exzentrik war für Ives erlaubt, denn er fühlte sich vollkommen frei. Durch die Gründung einer eigenen Versicherungsgesellschaft war er zu einem beträchtlichen Vermögen gekommen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt widmete er sich nicht mehr dem Komponieren, sondern dem Arrangieren und Bearbeiten seiner eigenen Stücke, veranstaltete auf eigene Rechnung Konzerte für seine und die Musik von Kollegen, die er schätzte.

Im Zentrum seines Oeuvrekatalogs stehen die vier Symphonien, die vom der jugendlichen »Gesellenübung« des Konservatoriumsabgängers bis zur erwähnten Riesencollage der Vierten, die Leopold Stokowksi 1965 zur umjubelten Uraufführung brachte, und die nur noch vordergründig das klassische viersätzige »Sonaten«-Schema spiegelt.

Die Symphonien

Symphonie Nr. 1

Ives selbst meinte von seiner 1898 vollendeten Ersten, sie sei ein Tribut an die Lehrzeit bei Horatio Parker an der Yale Universität. Daß der Lehrer ihm vor allem die deutsche Romantik ans Herz gelegt hatte, hört man an zahlreichen Passagen, die in diesem Werk nach Brahms klingen, doch konnten Kenner in der Durchführung des ersten Satzes einen aufsteigende Akkordfolge ausmachen, die bereits die allerletzte Komposition von Ives, den 90. Psalm anklingen läßt - wohl ist dem Komponisten, der seine Werke immer wieder sichtete und überarbeitete, zuzutrauen, daß er für sein Alterswerk eine Aleihe beim ganz jungen Ives gemacht hat...

Das wichitigste Vorbild für Ives zur Zeit der Entstehung der Ersten Symphonie dürfte freilich Antonin Dvorak gewesen sein, dessen damals noch taufrische Symphonie aus der Neuen Welt im Englischhorn-Solo des »Adagio molto (sostenuto)&lquao; ein unverkennbares Echo findet. Wobei der musikantische Dvorak-Tonfall schon im launigen Klarinettensolo des einleitenden »Allegro (con moto)« anklingt.
Das Scherzo klingt wie eine - allerdings erstaunlich gelungene - Persiflage auf eine Kontrapunktübung, das Finale präsentiert sich melodisch und schwungvoll, scheint, durch den Rückspiegel der Musikgeschichte betrachtet, als buntes Klang-Allerlei mit kräftigen Moludationsschüben bereits auf freche Ives-Experimente späterer Jahre vorauszuweisen.

Symphonie Nr. 2

Waren die Anleihen an den heimischen Spirituals in der Ersten Symphonie noch nach Dvoraks Vorbild im langsamen Satz formal »gezähmt«, zitiert Ives in der Zweiten bereits ungenierter. Nach einem noch von Brahms und Dvorak inspirierten Eingangs-Satz (»Andante moderato«), der sogar ein gelehriges Fugato enthält, gibt sich das folgende »Allegro« bereits bewußt »amerikanisch«: Beide Themen waren Ives' Zeitgenossen wohlbekannt:
Wake Nikodemus
Bringing in the Sheaves
ein Bürgerkriegs-Lied und eine religiöse Hymne, werden in der Durchführung von pulsierenden Rhythmen nach Brahms-Art vorangetrieben.

Auch im Adagio lassen sich amerikanische Ohren mühelos zwei beliebte Gesänge ausmachen:
Beulah Land und
America the Beautiful
etwas rührselig präsentiert, aber durch die typisch ives'schen harmonischen Rückungen der beschaulichen Hör-Bequemlichkeit entrückt.
Das Fugenthema aus dem Andante erscheint im Lento maestoso nun pathetisch in den Blechbläsern, bevor das Finale zum ersten symphonischen Collagen-Versuch des Komponisten wird, aus dessen quirliger Struktur sich mehrmals und immer deutlicher das Lied Camptown Races herauslöst, wobei ab einem gewissen Zeitpunkt der Volksfestcharakter zu grellen Dissonanzen führt, wenn man den Eindruck gewinnt, hier spielten - angefacht von militärischen Trompetensignalen - mehrere Blaskapellen gleichzeitig verschiedene Stücke. Columbia, the Gem of the Ocean trägt schließlich den Sieg davon und erfährt eine triumphale Apotheose - eine amerikanische Antwort auf die hymnischen Schlüsse von Bruckner-Symphonien? Jedenfalls setzt Ives einen Schlußakkord, der in der Musikgeschichte legendär werden sollte: Er beendet seine Zweite mit einer grellen Dissonanz. Manche Interpreten haben diese Provokation durch einen »sauberen« Dur-Akkord ersetzt, was gewiß gegen die Intentionen des Komponisten verstößt, der uns mit der Partitur seiner folgenden Symphonie noch viel größere Rätsel zu lösen gibt...

Symphonie Nr. 3

Die Dritte der vier Symphonien kann symptomatisch für die Ideen stehen, die Ives in seinem Schaffen verfolgte. Viele Jahre lang hatte er als Organist seinen Dienst an der Central Prsbyterian Church, New Vork, versehen.
Aus liturgischem Material formte er die Themen für seine 1901 begonnene Dritte Symphonie. Deren Untertitel The Camp Meeting verweist auf Kindheitserinnerungen an evangelikale Zusammenkünfte.

In den Ecksätzen des dreisätzigen Werks scheinen jeweils Motive durcheinandergewürfelt zu werden, die sich erst nach und nach zu musikalischen Themen entwickeln. Die Kombination aus Collage-Technik und strengen Formen - im ersten Satz erklingt zwischendurch auch eine regelrechte Fuge - gibt dem Stück den für Ives typischen, anarchischen Zuschnitt.

Dieses anarchische Element verstärkt Ives durch sogenannte »Schatten-Linien« (Shadow-Lines), die er als leise zu spielende, dissonierende Nebenlinien um die melodischen Hauptverläufe zieht.
Über dieses Zusätze besteht in der Ives-Literatur keine Einigkeit. Sie sind nicht in allen Ausgaben der Symphonie enthalten. Was wiederum kennzeichnend für das für Ives typische Wirrwarr um seinen Nachlaß ist.

Angeblich hat Gustav Mahler anläßlich eines seiner Aufenthalte in New York die Partitur der Dritten Symphoniegesehen, wie sie Ives aus seinen Skizzen im Jahr 1904 kompiliert hatte, und sich eine Kopie davon erbeten.

Doch das Werk ist erst 1946 erstmals gespielt worden: Lou Harrison dirigierte die New York Litte Symphony - und Ives bekam dafür den Pulitzer Preis zuerkannt - wobei er das Preisgeld sofort verteilte:
Prizes are for schoolboys —
I am no longer a schoolboy.
Ives war zum Zeitpunkt der Verleihung 73 Jahre alt und befand, Preise seien ein »Zeichen für Mittelmäßigkeit«.

Leonard Bernstein hat die beiden mittleren Symphonien mit New York Philharmonic aufgenommen (Sony). Die Vierte gibt es in einer Einspielung unter Seiji Ozawas Leitung (DG)

Symphonie Nr. 4

  • Prelude: Maestoso
  • Comedy: Allegretto
  • Fugue: Andante moderato
  • Finale: Very slowly – Largo maestoso
  • Das Prinzip der Collage hat Ives in diesem Werk, das 1925 vollendet wurde, aber erst nach seinem Tod erstmals erklang, auf die Spitze getrieben. Die Symphonie wird hier in der nachfolge Mahlers - und etwa in der Art, wie später Leonard Bernstein in seiner Mass agieren wird - zu einer Art »Sho« für Chor, Orchester und fernab postierte Instrumentalgruppen. Die musikalische Substanz zieht der Komponist aus früheren Werken, die er in das symphonische Ganze einarbeitet, überarbeitet, collagartig ineinander verwebt und palimpsestartig »überschreibt«.

    Die programmatischen Andeutungen, die Ives - wie sooft in verschiedenen Lebenslagen widersprüchlich zueinander - über die Vierte Symphonie gemacht hat, zeigen als »Handlung« der vier Sätze ein Individuum in seiner Stellung zur Allgmeinheit und der Schöpfung - oder anders gesagt: zu den widrigkeiten des Existenz. Je nach Betrachtungsweise kommt den vielen Zitaten geistlicher Lieder, denen auch immer wieder der für Ives so charakteristische Blaskapellen-Lärm gegenübersteht, der Charakter metaphysischer Zeichen zu - oder nicht...

    Jedenfalls erklingt das Näher, mein Gott, zu Dir, das zu Beginn der Symphonie zitathaft erscheint, im Finale die Bedeutung eines Cantus firmus zu, der sich - in einer Art Neudefinition der Idee der barocken Passacaglia - durch alle Lagen des reich registrierten Orchesterklangs zieht und zuletzt vom Chor - allerdings ohne Worte - gesungen beziehungsweise gesummt wird.

    ↑DA CAPO