Skrjabins Klaviersonaten
Alexander Skrjabin hat zehn Klaviersonaten numeriert. Zwei Jugendwerke, die keine Opuszahl bekommen haben, sind dieser Serie vorausgegangen.
Die gis-Moll-Sonate ist das Werk eines Vierzehnjährigen, ganz im schwärmerischen Chopin-Imitationston gehalten, voll von aparten Girlanden und Koloraturen.Sonate-Fantasie gis-Moll (1886) Sonate es-Moll (1889)
Zumindest im schroffen Kontrast zwischen dem fanatisch pulsierenden Beginn der drei Jahre später entstandenen es-Moll-Sonate und dem Eintritt des lyrischen Seitensatzes kann man den späteren, unverwechselbaren Skrjabin-Ton schon erkennen. Auch in der ambitioniert umfangreichen, ausschweifenden Durchführung des einleitenden »Allegro appassionato«. Im übrigen klingt vieles nach einem feinsinnig-geschmäcklerischen Gemisch aus Chopin, Liszt und ein wenig Tschaikowsky.
Die f-Moll-Sonate entstand unmittelbar im Zusammenhang mit der schweren Krise, in die Skrjabin schlitterte, als er durch allzu ausdauerndes Üben seine rechte Hand überfordert hatte und eine Zeitlang nur mit der linken spielen konnte. Im Verein mit Virtuosenstücken für die Linke Hand entstand auch die (für beide Hände gesetzte) viersätziges Sonate, die als erste in Druck ging - vom Komponisten aber wohl wegen ihrer Konnotation mit der Lebenskrise nur ein einziges Mal öffentlich gespielt wurde. Das Werk mündet in einen großen Trauermarsch, den Skrjabin, losgelöst von den übrigen Sätzen, später hin und wieder einzeln vortrug.
Die vier Sätze wachsen durch motivische Verbindungen sozusagen natürlich aus dem einleitenden Sonatensatz hervor. Die Orientierung der Musik an Chopin (nicht zuletzt an dessen »Trauermarsch-Sonate«) ist unüberhörbar.
Hörempfehlungen
Lazar Berman hat eine holzschnittartig klare, herbe Aufnahme der Ersten Sonate vorgelegt, in der er den abschließenden Trauermarsch geradezu trotzig herausmeißelt, um die ins vierfache Piano zurückgenommenen Kontrast-Abschnitte ätherisch-weltabgewandt abzusetzen.
Emil Gilels hat das Werk eleganter, weniger dramatisch als pianistisch brillant und in bewundernswerter klanglicher Differenzierung umgesetzt.
Entwprfe für die Zweite Klaviersonate entstanden bereits während der Arbeit an der Sonate Nr. 1, doch nahm die zweisätzige Fantasie-Sonate erst während eines Aufenthalts in Genua endgültige Gestalt an. Skrajbin bekannte selbst, zu beiden Sätzen vom Anblick des Meeres inspiriert worden zu sein, von einer Abendstimmung zum einleitenden »Andante«, von starker Bewegung der Wellen zum »Presto«-Finale. Das Manuskript wurde übrigens von Wien aus 1897 an den Verleger Beljajew nach Moskau geschickt, der es sogleich in Druck gab.
Swjatoslaw Richter hat (live in Prag, 1972) den visionären Ton des ersten Satzes wie schlwafwandlerisch getroffen, verwandelte den verhangenen H-Dur-Seitensatz in impressionistische Klangzauberei - oft scheinen völlig voneinander unabhängige Klangschleier übereinander zu wehen und nehmen den Hörer auf eine träumerisch-selbstvergessene, improvisatorische Reise mit, deren Bann, in der aubrausenden Durchführung sich zwar lockert, der sich aber erst mit der stürmischen Bewegung des Finales ganz löst.
Die Dritte ist Skrjabins »große« Auseinandersetzung mit der klassischen viersätzigen Form, inhaltlich von romantischem Überschwang getragen und hoch expressiv, doch architektonisch klug organisiert und strukturiert.
- I. Drammatico
- II. Allegretto
- III. Andante
- IV. Presto con fuoco – Maestoso
Spätere Druckfassungen der Sonate erschienen mit einem poetischen Programm, das vermutlich aus der Feder von Skrjabins zweiter Ehefrau Tatjana de Schloezer stammt, vom Komponisten aber autorisiert wurde:
I. Die Seele, frei und ungezügelt, durchlebt leidenschaftliche Kämpfe.
II. Sie findet zwischendurch Ruhe, doch pulsierende Leichtigkeit und duftige Harmonien sind nur sanft verschleierte Truggebildet.
III. Die Seele schwebt im Ozean melancholisch-verhaltener Gefühle
IV. Die Seele ringt mit den entfesselten Elementen, bis aus den Tiefen der Existenz der Siegeshymnus des Menschen in seiner Göttlichkeit heraufdringt.
Hör-Empfehlungen
Enstprechend unterschiedliche Zugänge eröffnen sich zu diesem Werk.
Die »Referenz-Aufnahme« stammt von Vladimir Horowitz, leuchtend, poetisch, dann wieder stahlhart zupackend, ein pianistisches Pandämonium.
Analytisch, ja geradezu sezierend genau hat Samson Francois das Notenbild im Blick - und doch findet er bei aller Detailverliebtheit Zeit, die Musik, jede Phrase für sich atmen zu lassen, leistet sich Rubati und dramaturgische Finessen, die - etwa am geschmäcklerisch modellierten Beginn des Scherzos hie und da ins Extravagante abgleiten; Geschmackssache, jedenfalls nimmt man auf keiner zweiten Aufnahme (abgeshen vielleicht beim viel diskutierten, Extremwerte auslotenden Glenn Gould) so viele Details wahr wie hier.
Den großen Stil der russischen Klavierschule repräsentiert hingegen Emil Gilels, der noch in den schärfsten Attacken, der er etwa in seinen Live-Aufnahmen (Prag, Moskau 1984) durchaus reitet, eine gewisse Weichheit und tonliche Rundung bewahrt, die den lyrischen Passagen - namentlich dem langsamen Satz - unvergleichlichen Charme vermitteln.
Die Vierte Sonate ist ein Werk des Übergangs. Skrjabin, bereits beschäftigt mit den Visionen eines künstlerischen Mysteriums, von »welterlösendem« Zuschnitt, schreibt noch einmal ein tonal grundiertes und im Grundriß zweisätziges Werk. Doch die späteren, einsätzigen Sonaten kündigen sich hier bereits an: Tatsächlich ist das Andante die langsame Einleitung zum folgenden Sonatensatz, einem Prestissimo volando, das schon in der Satzbezeichnung das Programm verrät: Die Musik soll fliegen, sich auflösen - das duftige, hoch virtuose Geschehen mündet tatsächlich in die Apotheose des Andante-Themas und stellt somit zum Schlußpunkt der Sonate die Einheit der beiden Teile wieder her.
Hör-Empfehlungen
Wunderbar leichtfüßige Darstellungen dieser ätherischen Sonate stammen von → Stanislav Neuhaus und → Samuil Feinberg (beide Melodia).
Nominell steht die Fünfte Sonate wie ihre Vorgängerin in Fis-Dur, doch weitet Skrjabin hier in dieser ersten »offiziell« einsätzigen Klaviersonate die tonalen Spannungen bereits in Regionen, die klare Zuordnungen beim Hören nicht mehr durchwegs treffen lassen. Obwohl doch mit den für Fis-Dur üblichen sechs Kreuzen als Vorzeichen notiert, dominiert die Klangwelt des mystischen Akkords, melodische Skalen erinnern nicht mehr an die altgewohnte Dur-Moll-Tonalität, osizillieren aber nach wie vor um bestimmbare Klang-Zentren.
Der formale Aufbau erinnert an die Vierte Sonate. Schon in den ersten Takten der langsamen Einleitung wechselt Skrjabin das tonale Fundament hie und da deutlich hörbar. Der rasche Teil der Sonate stellt - wie der Presto-Satz der Vierten einen musikalischen »Flugversuch« dar, der zwar noch die gewohnte »Sonatenform« mit Durchführung und Reprise durchscheinen läßt, den Hörer aber zuletzt in einen freien Klangraum entläßt, aus dem die Musik sich im letzten Takt wie eine Rakete in magische Fernen fortzubewegen scheint.
Das Werk ist zur selben Zeit entstanden wie das orchestrale Poème de l’Extase, aus dessen »Programm« der Komponist einige Verse auch der Druckausgabe seiner Fünften Sonate vorangestellt hat.
Ich rufe euch zum Leben,
Verborgene Kräfte!
Ihr, in dunklen
Urgründen des kreativen
Geistes schlafende,
behutsame Keime des Lebens,
Mutig bringe ich euch zur Entfaltung.
Hör-Empfehlung
Swjatoslaw Richter hat diese Sonate unvergleichlich interpretiert. Der Livemitschnitt von der Italien-Tournee 1962 wurde, auf LPs der Deutschen Grammophon gepreßt, zu einem Schallplatten-Klassiker.
»Dunkel und voll Rauch« seien die Harmonien seiner Sechsten Klaviersonate, beschied Alexander Skrjabin der staunenden Nachwelt - Painisten wie Hörer tun sich mit dem Werk schwer. Swjatoslaw Richter hat das Werk immerhin im Repetoire gehabt, doch existiert nur ein technisch mangelhafter Mitschnitt seiner intensiven Interpretation. Der Hörer wird zwischen → Igor Shukovs analytischer, vergleichsweise ruhgier, aber dunkel leuchtender Wiedergabe und der kraftvoller zupackenden, zwischendrin leidenschaftlich aufbrausenden Interpretation → Vladimir Sofronitskys wählen - und sie, wenn er das Werk einmal schätzen gelernt hat, vermutlich beide gleichermaßen mögen: Zwei Betrachtungen eines ungewöhnlichen Stücks aus unterschiedlichsten Blickwinkeln.
Zu einer Art »Mehr-als-Dur« bündelt Skjrabin die Akkordsäulen in seiner Siebenten Sonate, die er selbst »Weiße Messe« genannt hat, um sie von der sinistren Sechsten Sonate abzusetzen. Tatsächlich wird hier ekstatische ein musikalisches Schwebe-Experiment, wie es der Ausklang der Fünften Sonate beschworen hatte, quasi ad infinitum fortgesetzt. Zuletzt geht Skrjabins Klangvorstellung sogar über die Möglichkeiten des modernen Konzertflügels hinaus und schreibt Töne im Diskant vor, die auf der Tastatur gar nicht vorhanden sind . . .
Eine Aufführung dieses Werks fordert vom Pianisten auch innerhalb des zur Verfügung stehenden Rahmens äußerste Beherschung - Volodos hat die Siebente anläßlich eines Konzerts im Wiener Musikverein aufgeführt, wobei ein Videomitschnitt entstand, der fesselnde Einblicke gewährt. (Sony)
Die Achte findet sich beinahe nur in Gesamtaufnahmen der Skrjabin-Sonate, sie dürfte das am schwersten zugängliche Werk der Zehnergruppe sein, verrätselt, immer neue Varianten derselben, rieslenden, perlenden Bewegungsmuster zu leuchtenden, in allen Farben schillernden und schimmernden Klang-Kristallen bündelnd. Der Pianist ist vor heikelste manuelle Aufgaben gestellt, die vertrackten Folgen von Quart- und Terzgängen in immer neuen Konstellationen fordern äußerste Konzentration und Fingerfertigkeit. Einen einheitlichen Bogen über die fast 15-minütige Geschehnisse zu spannen, ist eine außerordentliche Herausforderung. Boris Berman bewältigt sie in seiner Aufnahme für »Music&Arts« beeindruckend sicher und mit subtiler Klangkultur.
So hymnisch Skrjabin euphorische Delirien zu beschreiben wußte, so intensiv konnte er sich auch in sinistre Winkel der Seele vorwagen: Nie sei er dem Teufel so nahe gewesen wie in seiner Neunten Klaviersonate, bekannte er selbste. Bald nannte man dieses Werk - im Gegenzug zur Sonate Nr. 7., die Skrjabin selbst als »Weiße Messe« bezeichnet hatte, die »Schwarze Messe«. Entsprechend wilde, beängstigende Klänge setzten Pianisten bei Aufführungen dieser Sonate auch frei. → Valdimir Horowitz hat
sie Mitte der Sechzigerjahre in der New Yorker Carnegie Hall mit maliziöser Freude gespielt und den gigantischen Trauermarsch, in dem die Entwicklung gipfelt, bevor die Musik geheimnisvoll entschwebt, gewaltig gesteigert.
Haltlos subjektiv agierte → Grigorij Sokolow bei einem von Melodia aufgenommenen Live-Konzert in den Anfängen seiner Karriere: Schon die konsequente Verlängerung des jeweils ersten Takteils zu Beginn der Sonate schafft ein seltsam unstetes, unsicheres Terrain für die kommenden sinistren Töne.
Bei Skrjabins letzter Sonate, einer leuchend hellen, hymischen Antithese zu den finsteren Beschwörungen der Neunten, ist → Valdimir Horowitz in der Pole-Position: Was er an ekstatischen Klängen aus dem Steinway zauberte, hätte vermutlich auch den Komponistn staunen lassen: Die von endlosen Trillerketten durchzogenen, lichten, euphorisch aufgeputschten Harmoniefolgen dieses Werks steigern sich in seiner Aufnahme zu einem Klang-Kaleidoskop, wie es in der Geschichte des Klavierspiels nur alle heiligen Zeiten entfesselt worden sein dürfte.