Krämerspiegel

Der Krämerspiegel ist vielleicht der kurioseste Liederzyklus, der je komponiert wurde. Er verdankt seine Entstehung einem imaginären Wutausbruch des im übrigen als stets gelassen bekannten Komponisten. Grund für die zunächst emotionelle, dann künstlerische Gefühlsaufwallung war Strauss' Verhältnis zu seinem Verlagshaus Bote und Bock. Im Zuge der Verhandlungen um die Herausgabe der Sinfonia domestica hatte sich der Verleger im jahr 1903 ausbedungen, zusätzlich zur Tondichtung auch die nächsten zwölf Liedkompositionen von Strauss verlegen zu dürfen. Mit Liedheften war nach wie vor viel Geld zu verdienen und Strauss hatte zuletzt einige der erfolgreichsten Lieder komponiert, die in den internationalen Konzertsälen unuterbrochen aufgeführt wurden.

Etwas unvorsichtig angesichts seiner bis dahin rege sprudelnden Lied-Inspiration - er hatte schon an die 100 Gesänge veröffentlicht - unterschrieb Richard Strauss den Vertrag bedenkenlos. Woran er nicht dachte: Das Komponieren von Liedern interessierte ihn in der Folge überhaupt nicht mehr. Tatsächlich hatte er in diesem Genre Bahnbrechendes geleistet, es aber gleichzeitig als permantentes Experimentierfeld für den Umgang mit der menschlichen Stimme genutzt; ebenso wie er mit seinen Tondichtungen den psychologischen Kontrapunkt und koloristischen Reichtum siner Opernpartituren vorbereitete - wohl ohne zunächst an diese »Spätfolgen« zu denken. Tatsächlich hat er nach der Sinfonia domestica mit Ausnahme der mehr als zehn Jahre später entstehenden Alpensinfonie keine symphonischen Dichtungen mehr geschrieben. Sein Schwerpunkt lag ab sofort auf dem Musiktheater - und nachdem ihm mit Salome (1905) ein Sensationserfolg gelungen war, der am Beginn einer beispiellosen Reihe von umjubelten Opern- und Ballett-Uraufführungen stand, verlor er das Liederkompoieren dauerhaft aus seinem Fokus.

Bis zur Frau ohne Schatten entstanden insgesamt nur sechs Lieder. Die lieferte Strauss brav an Bote & Bock. Doch der Verlag beharrte darauf, daß in der Abmachung von zwölf Liedern die Rede war und mahnte die ausständigen sechs Kompositionen ein.

Nach einigen gescheiterten»Erinnerungen« verschärften Bote & Bock Anfang 1918 - also 15 Jahre nach Vertragsabschluß - den Druck. Das war Strauss, der gebeten hatte, die Klausel zu ignorieren. Er erzählte dem wortgewaltigen Berliner Theaterkritiker Alfred Kerr von der Geschichte und der machte sich erbötig, einige Spottgedichte auf Verleger zu dichten. Es wurde zwölf statt der geforderten sechs Lieder, die Strauss aus Kerrs frech-kabarettistischen Texten machte, die mit den Namen der Verlage und deren Vertreter ihren sprachlichen Schabernack trieben.

Mehr als einmal landet die Entlarvung der Krämerseelen unter der sprichwörtlichen Gürtellinie. Strauss hatte die ersten vier Liederim März 1918 in Amsterdam innerhalb von drei Tagen komponiert. Die restlichen Gedichte vertonte er im heimatlichen Garmisch - oft zwei Stücke an einem Tag. Dabei entstanden säuberlich ausgefeilte Lied-Miniaturen, die sich als Ganzes jeweils weit über den Gymnasiastenwitz von Kerrs Texten erheben.

Das Provokationspotential freilich war enorm. Als Strauss seinen »Krämerspiegel« - sechst Lieder mehr als ausgemacht! - mit Unschuldsmiene an Bote & Bock sandte, mußte er ahnen, daß die Sache nicht friedlich ausgehen würde. Der Verlag reagierte sauer und verklagte den Komponisten!

Einzigartig in seiner Auslegung der künstlerischen Freiheit fiel das Urteil des Berliner Kammergerichts in dieser seltsamen Cuasa aus: Richard Strauss wurde tatsächlich dazu verurteilt »sechs richtige Lieder« zu komponieren. Die Gesänge des »Krämerspiegel« waren offenbar »falsche Lieder« - eine subtile Unterscheidung, die ihrer musikwissenschaftlichen Bestätigung bis heute harrt . . .

Noch einmal bewies Richard Strauss allerdings Humor und literarische Wendigkeit. Er schrieb in gelehrsamem Stil drei Lieder nach Texten aus den »Büchern des Unmuts« aus Goethes West-östlichem Divan und die drei Gesänge der wahnsinnigen Ophelia aus Shakespeares Hamlet. Daß Goethe und Shakespeare keine »richtigen« Dichter waren, hätte vermutlich kein Gericht der Welt je festzustellen gewagt. Auch wenn Goethes Verse durchaus als Anspielung auf die Causa Krämerspiegel gelesen werden konnten:
Übers Niederträdnige
Niemand sich beklage;
Denn es ist das Mächtige,
Was man dir auch sage.
Ob ein Richard Strauss Strauss bewußt für das Publikum schwer verdauliche Musik zu diesen Texten komponiert haben könnte, dürfte wiederum für keinen Richter jemals erkenn- und bewertbar sein. Zu hören bekommen Musikfreunde die sechs nachgelieferten, jedenfalls »richtigen« Lieder in den Konzertsälen selten - den Krämerspiegel als historisches Kuriosum jedoch des öfteren, zumal er einige herrliche Einfälle enthält - nicht nur satirischer Natur, etwa dort, wo das »Götz-Zitat« mit den Klängen des berühmten eingangsmotivs aus beethovens Fünfter Symphonie akustisch illustriert wird. Eine der schönsten Strauss-Melodien steht am Ende des Krämerspiegels: Wenn der Sänger zu Ende ist, entfaltet der Pianist noch eine zauberische Nachtmusik die - instrumentiert und ein wenig erweitert - als Mondscheinmusik in Strauss' letzter Oper, Capriccio unsterblich geworden ist.

Daß Bote & Bock nie wieder eine Strauss-Komposition für die Drucklegung angeboten bekam, muß man nicht dazusagen . . .

Uraufführung und Druck

An eine Drucklegung des Krämerspiegel war aber zunächst nicht zu denken. Dafür gab es eine Uraufführung des Werkes im privaten Kreis im Berliner Hotel Adlon. Strauss selbst saß am Klavier, Sigrid Johannsen, wenig später die erste Marie in Alban Bergs Oper Wozzek, also für heikle Aufgaben wie diese bestens präpariert, sang.


Titelblatt des Erstdrucks
Und 1921 kam der renommierte Berliner Kunsthändler und Kunstverleger Paul Cassirer auf den Gedanken, aus dem »Krämerspiegel« einen Luxusdruck auf Büttenpapier zu machen. Der erschien in 120 Exemplaren, illustriert mit Radierungen von Michel Fingesten (1884 - 1943), der für seine erotischen Graphiken berüchtigt war. Strauss und Fingesten signierten die 120 Drucke, die heute zu den gesuchten bibliophilen Kostbarkeiten zählen und auf Auktionen Höchstpreise erzielen.

Strauss war Cassirer sehr dankbar und schrieb:
Sehr geehrter Herr Cassirer! Mit großer Freude erfahre ich, daß Sie sich entschlossen haben, den Krämerspiegel in Ihren Verlag aufzunehmen. Endlich ein Mann, der den nötigen Humor besitzt, obgleich er selbst Verleger ist, dieses Werk richtig einzuschätzen, als das was es ist, als den Ausfluß einer Künstlerlaune.

Genehmigen Sie den Ausdruck meiner vorzüglichsten Hochachitung. Ihr sehr ergebener
Dr. Richard Strauss


↑DA CAPO