Medea

Uraufführung an der Wiener Staatsoper, 2010

Die größte Entdeckung dieses umjubelten Premierenabends hieß vermutlich Franz Grillparzer. In deutschen Landen kaum zur Kenntnis genommen, hierzulande eher mit Herablassung als selbsternannter Nationaldichter behandelt, erweist sich seine Sprachkunst als zeitlos in ihrem Nuancenreichtum und ihrer psychologischen Verdichtung. Wenn man sich denn überhaupt mit ihr beschäftigt. Aribert Reimann, aus einer Gegend stammend, wo man Grillparzer nicht einmal im Schulunterricht zu begegnen pflegt, bringt dessen Medea nun nach Wien zurück. Mit genialer Theaterpranke hat der Komponist den Text auf Librettolänge verdichtet - als Grundlage einer seiner irisierenden, von suggestiven Klangbildern geprägten Bühnenmusiken.

Die wächst respektgebietend wie einst jene zu Shakespeares Lear zum ausweglosen Tragödienstrom an. Marco-Arturo Marelli hat adäquate Bilder dazu auf die Staatsopernbühne gebaut, eine Geröllhalde, von der sich im entscheidenden Moment, in dem die Titelheldin beschließt, ihre Kinder zu opfern, Gesteinsbrocken lösen und gen Zuschauerraum stürzen.
Grelle Klänge zur grässlichen Handlung
Ein optisches Crescendo als eindrucksvolle Parallelaktion zur akustischen Agglomeration der Klänge. Reimann malt mit immer dickeren Pinselstrichen die Klang-Illustrationen zum grässlichen Geschehen. Grillparzers Text fokussiert er konsequent auf die Geschichte der fremden, ausgestoßenen Titelheldin, deren längst besiegelter Ausschluss aus der Gesellschaft ein richterlicher Bannfluch nur noch beschleunigt. Als Fremde ist sie vom ersten Augenblick des Dramas an verhasst, gebrandmarkt auch durch die wild-bunten Kostüme, die Dagmar Niefind ihr schneidert.

Ehemann Jason kleidet sich rasch wie am Hofe König Kreons üblich: Blütenweiß ist sein Jackett, blütenweiß sind die Anzüglein, in die man die Kinder steckt. Ganz in Weiß, zieht auch Jasons neue Braut, Königstochter Kreusa, die Kinder an sich.

Dem bösen Spiel entzieht sich Medea durch blinde Rache: Die Kinder, aber auch Kreusa, müssen sterben. Reimanns Klangmalereien erreichen ihre dichtesten, schmerzhaft explodierenden Momente dort, wo im Kopf Medeas die Idee zu jener Wahnsinnstat entsteht - und dort, wo diese in grauenvolle Realität umgesetzt wird. Mit klassischen Opern-Gesten ist die Medea-Musik nirgendwo in Verbindung zu bringen. Eher mit dem Formenspiel abstrakter Malerei. Die Linienführung beginnt, vom Läuten der Gongs angefacht, aus Unisono-Gängen der Bläser, deren Farbgebung bemerkenswert an die Evokationen des antiken Aulos-Klangs erinnern, wie Carl Orff ihn einst in seinen Sophokles-Vertonungen beschwor. Da hört das Ohr sich vielleicht noch ein paar Takte im vertrauten a-Moll zurecht. Doch bald zersplittern die melodischen Fäden, wie im Prisma aufgefächert. Fast durchwegs zeichnen die Instrumente in dieser Partitur ihre Melismen in vielfach aufgefächerter Parallelführung. Die Melodik wird sozusagen dreidimensional. Die vertrackten Rhythmen machen es den Instrumentalisten schwer: Jede Ungleichzeitigkeit würde sogleich bemerkt.

Aber die Philharmoniker musizieren Reimanns Werk konzentriert und engagiert. Michael Boder führt sie unerschrocken und mit größter Umsicht. Er beherrscht das Werk ganz offenkundig, als wäre es sein eigenes. Vermutlich könnte er sogar besser Auskunft geben als der Komponist selbst, wie exakt die Sänger auf der Bühne die unmenschlichen Anforderungen im Hinblick auf die zu treffenden Tonhöhen erfüllen. Immer dort, wo Instrumente die jeweiligen Töne übernehmen, lässt sich auch für den Normalverbraucher sagen: Was die Wiener Uraufführungs-Besetzung an Präzisionsarbeit leistet, ist gigantisch. Marlis Petersen voran absolviert die aberwitzig gezackten Koloratur-Orgien, die Reimann der Medea zudenkt, als wären sie von Mozart: Selbst in den extremsten Momenten, fernab jeglicher natürlichen Deklamation, liefert sie förmlich Belcanto-Gesang, fast zu schön, um dem Drama ganz gerecht zu werden.
Als wär's ein Belcanto-Stück
Doch geht es hier wohl darum, den orchestralen Malstrom vokal zu ergänzen und zu überhöhen. Die Singstimmen sind Teil des akustischen Gemäldes. Und Petersen bleibt selbst dort, wo dieses mit den Schmerzen der gequälten Frau zum überdimensionalen Alpdruck anwächst, souverän der natürliche Brennpunkt des Geschehens.

In den ein wenig kürzeren, aber beinah ebenso anspruchsvollen Partien der Vertrauten Gora und der Gegenspielerin Kreusa sind Elisabeth Kulman und Michaela Selinger ebenbürtige Partnerinnen. Kulman gestaltet den dunkel-ahnungsvollen Beginn des zweiten Teils mit glühender Intensität. Und Selinger bringt die geradezu swingenden Glitzerklänge, die Kreusa als das zivilisatorische Gegenstück zur wild-unbegreiflichen Medea kenntlich machen, mit koketter Laszivität über die Rampe. Faszinierend, wenn Medea und Kreusa für einen Moment versuchen, gemeinsam zu agieren, gemeinsam zu singen: Bald zerschellt der Versuch, mit einer Stimme zu sprechen, am Zusammenprall der Kulturen.

Die Herren haben kein leichtes Spiel. Doch weiß Adrian Eröd den Jason mit Zwischentönen zu gestalten, die auch Angst und Ratlosigkeit mitschwingen lassen. Michael Roider gibt den Kreon rechtschaffen herrisch und droht, dramaturgisch ganz richtig, erst die Fassung zu verlieren, als Max Emanuel Cencic mit virtuoser Countertenor-Attitüde von den Untaten beim Raub des Goldenen Vlieses berichtet.

Dieses ungerechte Gut bringt Medea am Ende zurück - um sich dem Gericht der Götter zu stellen. So ist es, als ob sich die Handlung nach der sehr an heutige Horrorszenarien gemahnenden Feuerszene wieder in Richtung antiker Tragödien-Geistigkeit verlöre; Reimann, der uns Medea ganz nahe gebracht hat, lässt das letzte Bild entgleiten in unbegreifliche Fernen einer Weltanschauung, deren Konsistenz am Beginn des 21. Jahrhunderts kaum mehr fassbar sein dürfte. Medea bleibt die Inkarnation der Fremdheit.

↑DA CAPO