Carl Nielsen
1865 - 1931
Der Däne Carl Nielsen war einer der führenden Komponisten im skandinavischen Raum am Beginn des XX. Jahrhunderts. Geboren 1865 als Sohn eines Malers und Dorfmusikanten, machte er erste musikalische Erfahrungen in dessen Dorfkapelle als Geiger.
Außerdem übte sich Carl Nielsen in kindlichem Alter auch im Trompetespielen. So konnte er 1879 ins Militärorchester von Odense eintreten und durfte als Stipendiat aber 1884 Violine, Klavier und Musiktheorie am Königlich Dänischen Konservatorium in Kopenhagen studieren.
Mit ersten Kompositionen ließ Nielsen nach seinem Studienabschluß, 1888, aufhorchen. Als Opus 1 firmierte eine Kleine Suite für Streicher.
1889 wurde Nielsen Geiger im königlichen Orchester. Im Jahr darauf trat er einen Studienaufenthalt in Deutschland an, nicht zuletzt um die Musik Richard Wagners gründlich zu studieren. In dieser Phase begann er an seiner Ersten Symphonie zu arbeiten. 1905 konnte er, als Komponist und vor allem als Dirigent mehr und mehr gefragt, seinen Orchesterdienst quittieren. Eine staatliche Pension garantierte ihm ab diesem Zeitpunkt, sich weniger dem Unterrichten und mehr dem Komponieren zu widmen.
Der Symphoniker
Im Zentrum des Werk-Katalogs von Carl Nielsen stehen die sechs Symphonien, die jeweils eigenwillige Neudeutungen der klassischen symphonischen Form bieten - in aller Regel programmatisch grundiert.
Symphonie Nr. 2 »Die vier Temperamente« (1902)
Die Inspiration zu einer Symphonie auf die vier menschlichen Temperamente kam Nielsen beim Anblick eines Bauerngemäldes in einem Dorfgasthaus und bei der Lektüre der Charakterisierungen dieser Temperamente durch die ittelalterliche Medizin: Sie schrieb alle Charaktereigenschaften den Körperflüssigkeiten Galle, Schleim, schwarze Galle und Blut zu. Je nach Mischung dieser Flüssigkeiten, wurde ein Mensch cholerisch, phlegmatisch, melancholisch oder sanguinisch.
Nielsen widmete das Werk Ferruccio Busoni und dirigierte die Uraufführung an einem Abend der Dänischen Konzertgesellschaft in Kopenhagen im Dezember 1902.
Der Choleriker (in h-Moll) beginnt bereits mit einem ungestümen Thema, das sich im Dialog mit einem kleinen Klarinetten-Apercu sogleich zu fanfarenartigen Ausbrüchen aufschaukelt, ehe sich ein ausdrucksvolles Seitenthema entwickeln und zumindest auf Zeit ein wenig Raum greifen kann.
Dem Choleriker folgt
der Phlegmatiker (in G-Dur), ein langsamer Marsch in krassem Gegensatz zum hochfahrenden Kopfsatz. Nielsen sah einen jungen Mann vor sich, der lieber in einem Park angesichts von Pflanzen und Tieren träumt, statt sich für eine Prüfung vorzubereiten.
Im dritten Satz (es-Moll) verfällt die Musik in tiefe Melancholie, Seufzerthemen ballen sich zu großen Klagelauten, eine stillere Episode (B-Dur) bringt nur kurzzetig Beruhigung. Die Anfangsthemen brechen bald wieder hervor.
Der Sanguiniker. Für Nielsen stand das Finale für einen Charekter, dem die ganze Welt ohne sein Zutun in den Schoß fällt. Einige wenige Momente der Furcht, der Besinnung führen rasch wieder zurück in eine überschäumende Welt der Zuversicht. Die Symphonie schließt in stümischem A-Dur.
- Die dritte Symphonie, Sinfonia Espansiva, hob Nielsen im Februar 1912 am selben Abend wie das Violinkonzert aus der Taufe. Er war im Jahr davor zum Chefdirigenten am Königlichen Theatre ernannt worden, eine Position, die er bis 1914 innehatte. Das Werk war sogleich erfolgreich. Schon wenige Wochen nach der Uraufführung dirigierte Nielsen auch die holländische Premiere am Pult des Concertgebouw Orchesters in Amsterdam.
Symphonie Nr. 4 »Das Unauslöschliche« (1902)
Die Vierte Symphonie, The Inextinguishable, wurde 1916 fertiggestellt. In den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs komponiert, sollte das Werk den unbezwingbaren Willen zu Leben symolisieren, der sich allen Widrigkeiten zum Trotz durchsetzen muß.
Die vier Sätze des Werks sind pausenlos miteinander verbunden, gehen quasi auseinander hervor, was den Eindruck des Vegetativen noch verstärkt. Die fantasievolle Metamorphosetechnik Nielsens gewinnt immer wieder scheinbar Gegensätzliches aus einzelnen Motiv-Kernen.
Dem kraftvollen Symphoniebeginn folgt ein pausenloser Entwicklungsprozeß, der immer wieder widerstreitende Elemente in den symphonischen Fluß aufnimmt, verwandelt und zusammenschmiedet. Eine Metamorphose macht die Musik auch harmonisch durch: Aus dem einleitenden d-Moll erreicht sie zuletzt ein strahlendes E-Dur. In dem vierzigminütigen Prozeß scheint alles auf diesen Schluß zuzulaufen, was sich entgegenstellt, wird überwältigt, verwandelt oder ausgeschieden.
Auch die gliedernden Episoden sind in diesen Verlauf nahtlos eingebunden. Die Symponie beginnt mit einem- Allegro (d-Moll)
- Das poco llegretto in G-Dur steht für den zweiten Satz der viersätzigen Struktur, ein
- Andante, quasi adagio steht für den langsamen Satz, der bereits die starke Anziehungskraft der Tonika E verrät. Das
- Allegro strebt in heftiger Bewegung einem kämpferischen Höhepunkt zu, der in einem Wettstreit zwischen zwei liks und rechts auf dem Podium postierten Pauken-Gruppen kulminiert. Dieser einzigartige Effekt in der Symphonie-Geschichte führt zum hymnischen Finale. Der »unauslöschliche« Lebenswille - und damit eine Gegen-Vision zu den kriegerischen Ereignissen der Entstehungszeit - hat sich durchgesetzt.
Symphonie Nr. 5 (1922)
Die Fünfte führt den teilweise bedrohlichen, von höchster Bedrängnis kündenden Ton etlicher Passagen der Vierten weiter.
I. Tempo giusto
über der Terzpendelbewegung der Streicher etabliert sich in den Holzbläsern ein zunächst ruhig und beschaulich wirkendes Motiv, das freilich bald alptraumartig zu wuchern beginnt. Die Celli brechen aus, Schlagwerk knattert herein - - Nielsen läßt die Trommeln bald ohne Rücksicht auf das Zeitmaß martialisch Schlagen. Die katastrophalen Kriegsszenarien von Schostakowitschs Siebenter Symphonie scheinen im gefährlichen Anwachsen der Steigerungswellen hier bereits vorweggenommen.
Die Dramaturgie verfehlte ihre Wirkung nicht: Anläßlich der Uraufführung in Stockholm 1924 traten einige Zuhörer die Flucht aus dem Konzertsaal an . . .
II. Adagio
Der wiederum ruhig anhebende Gesang des Adagios gehört nominell zum »ersten Satz«, ist aber mit diesem nur durch die Tatsache verbunden, daß auch in dieses schweinbare G-Dur-Idyll bald die Kriegstrommeln herintönen und nicht nur auf dem Höhepunkt des groß angelegten Crescendos, sondern auch noch im ersterbenden Ausklang zarter Klarinettensoli unheilverkündende Zeichen setzen.
III. Allegro - Presto - Andante un poco tranquillo
Das Finale hebt vortwärtsdrängend an, wiederum nur scheinbar frohgemut, bald von grellen Dissonanzen durchschnitten. Die unablässige Bewegung nimmt obsessive Züge an, wird hektisch, fahrig. Dabei führen kontrapunktische Abenteuer die Stimmen immer dichter an- und gegeneinander. Die fugierten Einsätze der Streicher (Presto, f-Moll) werden durch Pauken und Bläser empfindlich gestört.
Doch der dramatische Knoten löst sich - die Symphonie mündet nach einer Beruhigungsphase (die Flöte führt, Andante tranquillo das Hauptthema wieder ein) in einen grandiose Es-Dur-Hymnus.
Wie in der Vierten Symphonie löst sich auch hier die Spannung mit der Wiederaufnahme der kraftvoll drängenden Bewegung ins Euphorisch-Positive.- Die letzte der sechs Symphonien wurde 1925, ein Jahr nach der Uraufführung der Fünften fertiggestellt.
Abgesehen von den Symphonien schuf Nielsen zwei Opern, etliche Ouvertüren und Tondichtungen sowie die von den Solisten dankbar aufgenommenen Konzerte für Klarinette und Violine.
Zu den groß dimensionierten Stücken zählen noch Chorwerken, im intinem kammermusikalischen Bereich gibt es aus Nielsens Werkstatt drei Streichquartette, ein Bläserquintett und drei Violinsonaten, außerdem ein wenig Klaviermusik.
Nielsens Tonsprache basiert durchwegs auf der Dur-Moll-Tonalität, ist aber von einer eigenwillig herben, unverwechselbaren Charakteristik.
Nielsens starb 1931 in Kopenhagen.