Die »Zehnte«
Bei diesem Werk, das angesichts der internationalen Mahler-Schwemme mittlerweile sehr oft auch in einer »vollendeten« fünfsätzigen Version aufgeführt wird, ist die Quellenlage äußerst problematisch. In Partitur fertiggestellt ist lediglich der erste Satz, ein Adagio, das früher als einziger Satz einer Mahlerschen »Unvollendeten« viel gespielt wurde.Dieses etwa 25 Minuten lange Adagio reiht sich in die großen, dramatisch gesteigerten symphonischen Gesänge Mahlers ein, wie wir sie als Finale der Dritten und Neunten finden. Vorbild für die architektonische Konstruktion ist offenkundig das Adagio aus Bruckners Neunter Symphonie - auch Mahles Satz kulminiert, dramatisch angestachelt durch die Auswüchse eines tänzerischen, zunächst behutsam über Pizzicatotönen schwebenden Seitenthemas in eine katastrophischen Dissonanz, die unaufgelöst bleibt und durch einen ruhig verklingenden Schluß (wie ein Fragzeichen) abgelöst wird.
Ergänzungs-Versuche
Einen zweiten Satz, Purgatorium genannt, konnte bereits Ernst Krenek rekonstruieren, wobei die Frage, ob Mahler einen derartig kurzen Satz in seiner Symphonie stehen gelassen hätte, sich aufdrängt. Immerhin, die Skizzen legen die von Krenek publizierte Gestalt nahe.Was die weiteren Sätze der Symphonie betrifft, herrscht weitgehend Unklarheit, auch wenn diverse Arrangeure das Gegenteil behaupten.
Mahlers Pläne
Im Nachlaß von Alma Mahler fand sich ein Konvolut von Entwürfen, die immerhin ziemlich klar die vom Komponisten beabsichtigte Grundstruktur seiner Fis-Dur-Symphonie erkennen lassen. Fünf Sätze waren geplant:Andante - Adagio Scherzo. Schnelle Viertel - Plötzlich viel langsamer - Tempo I Purgatorium. Allegretto moderato Scherzo. Allegro pesante Finale. Langsam, schwer - Allegro moderato - Andante - Adagio
Das »Purgatorium« wäre also im Zentrum einer palindronischen Anlage gestanden.
Deryck Cookes Spielfassung
Der Musikologe Deryck Cooke war der erste, der eine Spielfassung aus den Skizzen hergestellt hat, die bereits in den Sechzigerjahren aufgeführt und aufgenommen wurde, als Pioniertat in einer sehr klangschönen Darstellung durch Eugene Ormandy mit dem Philadelphia Orchestra.Cookes Spielfassung - und auch die Versuche seiner Nachfolger - lassen hören, daß Mahler in diesem Werk wohl harmonisch noch über die Kühnheiten seiner Neunten hinausgegangen wäre. Das zweite Scherzo mischt zu den Walzerklängen, die im Zentrum verzerrt auftreten, grimassierende Gesten im Verzweiflungston der Sechsten Symphonie, wobei zitathafte Anklänge auch an das Scherzo der Fünften und einige Passagen im Lied von der Erde anklingen.
Dumpfe Trommel-Signale
Zuletzt setzt ein dumpfer Schlag der großen Trommel dem Treiben ein Ende.Mahler hat diesen Trommelschlag als Zaungast einer Beerdigung eines Feuerwehrhauptmanns in New York gehört und als erschütternd engültiges Signal in seine Symphonie aufgenommen wie die berüchtigten Hammerschläge in seiner Sechsten.
Das Finale beginnt mit demselben Trommel-Schlag, der immer wiederkehrt, ehe ein wildes Allegro einem Höhepunkt zusteuert, auf dem tröstliche Visionen hörbar werden: Die Symphonie endet in dieser Spielfassung Cookes mit einer Erinnerung an die Klangwelt des einleitenden Adagios in verklärtem Fis-Dur. Was der akribische Arbeiter und Korrektor Mahler aus seinen Skizzen gemacht hätte, wird freilich ein Geheimnis bleiben.